Zweites Kapitel: Die Ästhetische Rechtfertigung

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2. DIE ÄSTHETISCHE RECHTFERTIGUNG

KUNST ALS SURROGAT DER RELIGION

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Schon 1862 stellt sich Nietzsche in seiner Jugendschrift »Fatum und Geschichte« die für seine Geistesevolution folgenreiche Frage, wie sich das Weltbild verändern würde, wenn es keinen Gott, kein Jenseits und kein Leben nach dem Tod gäbe. Er möchte wissen, was nach dem Abzug aller religiösen Phantasmen übrig bleibt, denn nach seiner Lektüre von Feuerbachs »Wesen des Christentums«, dessen Verfasser den Menschen als den Anfang, die Mitte und das Ende der Religion[1] postuliert, das religiöse Empfinden quasi anthropozentriert und den fundamentalen Mythos der Religion durch das Hereinziehen in das menschliche Seelenleben hinfällig macht, sieht sich der junge Nietzsche gezwungen, den alten Familienglauben aufzugeben. Aber dieses Aufgeben kommt keineswegs einer Resignation gleich: Im Gegenteil. Daß Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, daß der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründen[2], schreibt er in einem denkwürdigen Brief an seine Schulfreunde. Wer oder was könnte diesen Himmel auf Erden aber gewährleisten? Die Naturwissenschaften sind dazu bestimmt nicht fähig. Ihre Aufgabe ist nicht das Schaffen neuer Ideale, sondern das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten, ist nicht das schöpferische Eingreifen in die Wirklichkeit, sondern die möglichst passive Dokumentation kausaler Zusammenhänge. Auch die Geschichte, als Aneinanderreihung von vermeintlich essenziellen Ereignissen, büßt ihre Bedeutung ein, sobald die Existenz einer überweltlichen, steuernden Vernunft in Frage steht. Nietzsche ist sich dessen bewusst und setzt auf eine ganz andere Lösung des Problems.

Erst nach zehn Jahren soll er – bestärkt durch die Freundschaft Wagners und inspiriert von den Erfahrungen im Bereich der Philologie – Mut und Ausdruckskraft finden, seine Alternative schriftlich vorzustellen. Sie findet ihren Niederschlag in der »Geburt der Tragödie« und erklärt ihre Tendenz lakonisch in dem Grundsatz, dass das Dasein und die Welt nur als aesthetisches Phänomen ewig gerechtfertigt ist.[3]

Das Axiom hat nun zwei unterschiedliche Bedeutungen, die sich nicht aufheben, sondern ergänzen: Eine sehr naheliegende, fast triviale und von Philosophen oft genug formulierte Bedeutung und eine eher schwer zugängliche, tiefgründigere und von Nietzsche neuartig hervorgebrachte Bedeutung.

Erstere bezeichnet einfach den Umstand, dass unser Dasein erst durch die Kunst erträglich wird[4]. Mit ihrer Hilfe treten wir für einen Moment aus dem Gefängnis unserer alltäglichen Begierden und Bedürfnisse heraus, entziehen wir uns den Qualen und Ängsten unseres Lebens, und mit unserer Individualexistenz vergessen wir auch auch die Mühen und Sorgen, die darin verhaftet liegen. Keine Frage, dass der kunstverliebte Schopenhauer, den Nietzsche so sehr verehrt, auch hier den Wegbereiter abgibt. In der künstlerischen Versenkung, schreibt dieser, sind wir herausgehoben aus dem endlosen Strom des Begehrens und Erreichens; die Erkenntnis hat sich los gemacht vom Sklavendienst des Willens, sie ist frei und für sich da (...) wir sind für jenen Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt, feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.[5]

Kommen wir zur zweiten Deutung des Satzes. Volker Gerhardt schreibt hierzu: Ästhetisch gerechtfertigt ist (...)  das, was über die unmittelbare Wirkung hinaus keiner Rechtfertigung bedarf und ganz aus sich heraus als unmittelbar sinnvoll einleuchtet. Nietzsches Formel enthält damit die Absage an jede Begründung durch äußere Zwecke. Und weiter: In dieser Deutung ist die ästhetische Rechtfertigung ein Ausdruck der durchgängigen Selbstgenügsamkeit der Welt, die keine über sie hinausweisenden Sinnbezüge benötigt und doch in sich so sinnvoll ist, wie nur ein Kunstwerk es sein kann.[6]

Genauso, wie wir ein Kunstwerk, unter moralischer, metaphysischer oder religiöser Perspektive seiner selbst entfremden und seiner Freiheit berauben würden, verliert das konkrete Dasein seinen individuellen, geschichtlichen, seinen realen Wert, wenn wir es auf eine höhere Instanz oder eine moralische Formel referieren. Das Leben ästhetisch betrachten, bedeutet, es so zu erleben, als ob es in sich gerechtfertigt wäre.

Heißt das aber, dass wir keinen Sinn mehr in unserer Existenz sehen dürfen? Will Nietzsche mit der ästhetischen Rechtfertigung vielleicht, dass wir zu hedonistischen Nihilisten werden? Keineswegs. Aber wir sollen uns Sinn und Zweck unseres Daseins selbst einrichten, statt uns transzendenten Prinzipien zu unterwerfen. Nietzsche setzt hier auf artistisch-souveräne Lebensgestaltung, nicht um irgendeinem Publikum, wie Gott oder der Menschheit zu genügen, sondern um sich selbst zu genügen. Denn die ästhetische Rechtfertigung will die Rechtfertigung des Menschen vor sich selbst und vor nichts und niemandem sonst.[7]



[1] http://www.virtusens.de/walther/werke.htm 10.02.05

[2] Ebd.

[3] N. zitiert von Gerhardt V., „Pathos und Distanz“ , Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 1988, S.56

[4] Ebd. S. 50

[5] Liessman K.P., „Philosophie der modernen Kunst. Eine Einführung“ (WUV Wien 1999), S.68

[6] Gerhardt V., S.59

[7] Ebd. S. 60

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