Drittes Kapitel: Dionysos und Apoll

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3. DIONYSOS UND APOLL

DER BEGINN EINER FREUNDSCHAFT?

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Entscheidend für das Kulturverständnis Nietzsches sind die zwei von den griechischen Gottheiten abgeleiteten Begriffe: Das Dionysische und das Apollinische.

Apollon zunächst ist der Gott des Lichts, der sittlichen Reinheit und Gemäßheit, ebenso der Gott der Musik und Vorsteher der Musen[1]. Er repräsentiert für Nietzsche das Olympisch-Klare, die formale Disziplin, die konkrete Abgeschlossenheit. Das Apollinische steht insofern für sondernd, tektonisch, denkend, nüchtern, bestimmt, hell und begrenzt.[2] Hier glaubt Nietzsche den Drang zum vollkommenen Für-sich-Sein, zur Individualität, Vereinfachung, Heraushebung, Stärke, Deutlichkeit und Typik zu finden.[3] Aber auch der Traum, im Unterschied zur Wirklichkeit, steht Nietzsche gemäß für das Apollinische: Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist gleichfalls von den Griechen in ihrem Apollo ausgedrückt worden: Apollo, als der Gott aller bildnerischen Kräfte, (...) der seiner Wurzel nach der "Scheinende", die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Schein der inneren Phantasie-Welt[4]

Dionysos nun steht mit Apollon in einem diametralen Verhältnis. Er ist der Gott des Weines, des Rausches und der orgiastischen Feste. In diesen Festen, so berichtet Nietzsche nicht ohne Pathos, ist der Sclave freier Mann,(...) zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder "freche Mode" zwischen den Menschen festgesetzt haben. Dort  fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen.[5] Das Dionysische ist Symbol für das überschäumende Leben, für die Formlosigkeit und Unbegrenztheit des Wirklichen, ebenso für die unzerstörbare Lebensfreude, trotz allen Leids im Dasein, als Symbol des beständigen Werdens, der ewigen Erneuerung. Dionysisch bedeutet kontinuierlich, fließend, gefühlvoll, berauschend, natürlich, unbestimmt, dunkel, unendlich.[6]

Das Wesentliche ist damit aber noch nicht gesagt. Nietzsche wird es für uns tun, in Form einer griechischen Fabel: Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: "Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich - bald zu sterben“[7]

Die alten Griechen wussten, dass das Leid dem Glück gegenüber ein deutliches Übergewicht hat, dass Krankheit und andere Übel sie jederzeit heimsuchen und dahinraffen konnten. Sie kannten die Übermacht des Schicksals, die schuldlose, weil unbewusste Verschuldung des Menschen, die blinde Herrschaft von Ungerechtigkeit und Unvernunft in der Welt – man wage nur einmal einen Blick auf den Olymp. Keinen christlich-jüdischen Gott wird man dort finden, keine märchenhafte Inkarnation von vollendeter Vernunft, gütigem Mitleid und wägender Gerechtigkeit. Im Gegenteil: Die griechischen Götter sind rau, grausam, bösartig und rücksichtslos – von ihnen versprach man sich keine Gnade, und schon gar keine Erlösung im christlichen Sinne.

Dies nun ist der zentrale Aspekt des Dionysischen. Es ist die Erkenntnis, dass es das Beste wäre, nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein, und gleichzeitig das Bewusstsein, dass gerade das für uns nicht mehr möglich ist.

Dionysisch daran ist jetzt zweierlei:

Erstens die Ursache dieser Diskrepanz, die im Irrationalen, im blinden Fatum, im heillosen Grund der Dinge besteht. Der Mensch kann sich sein Schicksal nicht aussuchen und steht, kaum ins Leben getreten, auch schon unter der Herrschaft seiner eigenen Affekte, die wiederum von der Welt gekitzelt, genährt und wieder hervorgelockt werden. Die Welt aber – und das betont Nietzsche – ist ihrem Wesen nach dionysisch und nicht apollinisch, d.h. sie wird von unvernünftigen, ziellosen Trieben beherrscht und nicht von irgendeiner geistig-erhabenen, übermenschlichen Instanz.[8]

Dionysisch ist zweitens die Empfindung dieser Diskrepanz, die sich in einem tragisch-romantischen Gefühl äußert und das Dasein in einer eigenartigen Lust an der Trauer und Melancholie verklärt. Glück und Unglück scheinen hier ebenso versöhnt, wie der Mensch und sein Umfeld. Er ahnt, dass sein Ich flüchtig und wertlos, nur die ungeteilte Natur von Bedeutung ist, er verleugnet seine Individualexistenz, verliert seine Angst vor dem Tod, ja sehnt sich sogar nach der eigenen Auflösung, Entgrenzung, um mit der Natur wieder eins werden zu können. Mit Worten alleine lässt sich dieses Phänomen leider nicht erklären. Man muss es erlebt haben, um es nachvollziehen zu können.

Dieses Dionysische sei ursprünglich gar nicht griechisch, sondern orientalisch, barbarisch gewesen und erst von immigrierten Völkern hereingebracht worden. Der sich daraufhin entfachende Wider- und Wettstreit von apollinischer Nüchternheit und dionysischem Rausch soll dann die attische Tragödie – für Nietzsche der Inbegriff des Kunstwerks – synthetisch hervorgebracht haben. Erst sie besitzt jene Duplizität von allgemeiner Verständlichkeit und tragischer Tiefe, erst ihr gelingt die bewusstseins-helle Darstellung dunkler Schicksalsmächte.[9]

Obwohl Nietzsche prinzipiell das dionysische Kulturmoment präferiert, legt er den höchsten Wert auf eine Ausgeglichenheit beider Mächte. Denn würde das Dionysische allein herrschen, wären Dumpfheit und Chaos die Folge; es bedarf daher des vereinfachenden, ordnenden Moments: des Apollinischen. Setzte sich dieses absolut, würde Erstarrung das Ende sein; das Apollinische ist daher auf das überströmend Lebendige seines Gegenteils angewiesen.[10]



[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Apoll - 11.02.05

[2] Henning O., „Nietzsche Handbuch. Leben – Werk – Wirkung“, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag Gmbh in Stuttgart 2000, S.187

[3] Ebd. S. 188

[4] Nietzsche F.W., Die Geburt der Tragödie“, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 1988, Kap.1/S.20

[5] Ebd. Kap.1/S.23

[6] Henning O, S. 188

[7] Nietzsche F.W., „Die Geburt der Tragödie“, Kap.3/S.29

[8] Eindeutig lässt sich hier die Vorgängerschaft Schopenhauers feststellen, der eben diese pessimistische Weltsicht in seiner Willensmetaphysik darlegte.

[9] Safranski R., S.58

[10] Henning O., S. 189

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