Viertes Kapitel: Der Décadent Sokrates

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4. DER DÉCADENT SOKRATES

SCHULDIG AM MORD DER TRAGÖDIE

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Nun stellt Nietzsche umsichtig fest, dass sein Zeitalter dieses Gleichgewicht nicht halten kann. Es ist Apoll, der in der Moderne das Machtwort spricht und das kulturelle Zepter in der Hand hält. In Form positivistischer Wissenschaft, fortschrittsgläubiger Historie und moralinsüchtiger Politik, beschäftigt der Gott der Vernunft die Massen mit Denkaufgaben, die eine Frage nach dem tragischen Urgrund des Seins ad absurdum führen.

Doch Nietzsche entdeckt auch, dass nicht nur sein Zeitalter von diesem Ungleichgewicht betroffen ist. Viel mehr findet er sich am Ende einer langen Kette von Entwicklungen wieder, die allesamt schon mehr oder weniger im Zeichen des Apollinischen standen. Nietzsche deutet es als Dekadenz. Den Ursprung dieses Verfalls meint er bereits in der Antike zu finden. Ganz vorne, in der Reihe der Angeklagten, und von Nietzsche mit gnadenloser Härte für schuldig erklärt, sitzt Sokrates, als der Mörder der dionysischen Wertschätzung: Das schärfste Wort (...) der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe, nichts zu wissen; während er, auf seiner kritischen Wanderung durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern, Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. "Nur aus Instinct": mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu müssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorläufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum grössten Glücke rechnen würden.[1]

Mit Sokrates kommt es zu einer entscheidenden Wende in der Kulturgeschichte, deren Einfluss den Rahmen des Philosophischen transzendiert. Durch seine Behauptung, dass niemand wissentlich etwas Schlechtes tue, dass allen Übeln theoretisch aus dem Weg gegangen werden könne, wenn die Menschen sich nur um Einsicht und Wahrheit und die eigene Seele[2] bemühten, kommt es zu einem intellektuellen Optimismus, der prinzipiell alles für möglich hält und die Tiefe des Seins verleugnet.[3]

Dadurch wird aber auch die Kunst in ihren Grundfesten attackiert und ihres dionysischen Wesens beraubt. Nietzsche hierzu: Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: "Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche": in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein nothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und frechen Princip der "poetischen Gerechtigkeit" mit seinem üblichen deus ex machina erniedrigt.[4]

Dies ist also der Beginn des Niedergangs der Tragödie und – in Nietzsches Augen – der Kultur überhaupt. Und sein Traum, ihre Renaissance aus dem Geiste der Wagner`schen Musik mitzuerleben, geht nicht in Erfüllung.

 

 



[1] Nietzsche F.W., „Die Geburt der Tragödie“, S.83f.

[2] Kunzmann, Burkard, Wiedmann, „dtv – Atlas, Philosophie“, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München 1991, S. 37

[3] Safranski R., S.55

[4] Nietzsche F.W., „Die Geburt der Tragödie“ Kap.14/S.88f.

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(c) Philemon