Fünftes Kapitel: Von der Scheinbarkeit der Wahrheit

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5. VON DER SCHEINBARKEIT DER WAHRHEIT

»WER DIE WAHRHEIT SAGT, LÜGT!«

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In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der "Weltgeschichte": aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. - So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. [1]

In seiner erkenntnistheoretischen Schrift »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« führt Nietzsche den Gegenschlag auf die sokratisch-apollinische Tendenz aus. Auf der einen Seite erklärt er – wie schon in der Fabel angedeutet – die Machtlosigkeit der Vernunft gegenüber dem kontingenten, triebgeleiteten Kosmos. Auf der anderen Seite – und daran liegt sein eigentlicher Beitrag zur Philosophiegeschichte – erklärt er die Wahrheit selbst zum Irrtum und zur Lüge. So deutet er sie einmal als ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, und Anthropomorphismen[2], die aber keinen notwendigen Bezug zur Wirklichkeit haben, sondern nur das Produkt zahlreicher Vereinfachungen, Übertragungen und Weglassungen darstellen. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.[3]

Seine primäre Definition lautet also: Jede Erkenntnis ist wesentlich Schein. In Wirklichkeit erkennen wir nicht, sondern wir schematisieren, kategorisieren und vereinfachen[4]. Wir legen uns die Welt so zurecht, wie sie uns am Sinnvollsten vorkommt, und wie wir am besten Nutzen aus ihr ziehen können. Insofern ist auch der ganze Erkenntniß-Apparat (...) ein Abstraktions- und Signifikationsapparat – nicht auf Erkenntniß gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge[5]. Folglich ist auch Wahrheit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre, - sondern etwas, das zu schaffen ist und das die Normen für einen Prozeß abgibt, ... der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, ein aktives Bestimmen, - nicht ein Bewußtwerden von etwas, das an sich fest und konstant wäre.[6]

Die bis jetzt angeklungene Wahrheitstheorie sieht einem konstruktivistischen Pragmatismus der Moderne schon sehr ähnlich, was vermuten lässt, dass Nietzsche hier fundierende Grundsteine gelegt hat. Es kommt nun aber noch ein Moment hinzu, das konsenstheoretisch auch die Bedeutung von Sprache im gesellschaftlichen Kontext miteinbezieht: Weil nämlich der Mensch zugleich aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise existiren will, braucht er einen Friedensschluss und trachtet danach dass wenigstens das allergrösste bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. Dieser Friedensschluss bringt etwas mit sich, was wie der erste Schritt zur Erlangung jenes räthselhaften Wahrheitstriebes aussieht. Jetzt wird nämlich das fixirt, was von nun an "Wahrheit" sein soll, d. h. es wird eine gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden und die Gesetzgebung der Sprache giebt auch die ersten Gesetze der Wahrheit[7]

Der Mensch ist das sprechende Tier, und bis zu einem gewissen Grad auch: das mitteilungsbedürftige Tier. Mitteilung setzt aber eine gemeinsame Basis, ein Reglement, einen kollektiven Grund voraus, auf dem Verständigung alleine möglich ist. Dieses Muster zwischenmenschlicher Kommunikation erkennt Nietzsche nun als das, was man gemeinhin als Wahrheit bezeichnet. Die Lüge ergibt sich aus dem eigennützigen Missbrauch des Reglements, dem bewussten Bruch der »Spielregeln«, indem man Dinge von sich gibt, die richtigerweise anders gesagt werden müssten. Wahrheit hingegen betrifft die durch die gegenwärtige Sozietät vorgegebene Einhaltung des ungeschriebenen, aber durch die kommunikative Erfahrung vermittelten Gesetzes. Damit läuft die Philosophie, die sich der »Suche nach der Wahrheit« verschrieben hat, aber Gefahr, zu einer bloßen Begriffsforschung, einer logisch-semantischen Wortspielerei zu degenerieren, wo Begriffe zueinander in gehaltlose Relationen gestellt, formale Prinzipien der Sprache untersucht, aber keine Erkenntnisse über die Welt mehr gegeben werden. Tatsächlich hat sich genau diese Gefahr der begrifflichen »Selbstsucht« in philosophischen Tendenzen, wie dem Platonischen Idealismus, der Kant’schen Vernunftkritik oder der Hegel’schen Dialektik verwirklicht.

Eine weitere Gefahr, die von Sokrates und Platon nur fortgesetzt, aber ursprünglich von Parmenides ausgelöst wurde, besteht in der Entwertung der konkreten Wirklichkeit.

Die Hochschätzung abstrakter Begriffe als die geeigneten Träger der Wahrheit forderte freilich die Übereinstimmung mit der sinnlichen Erfahrungswelt. Nun war bereits den Vorsokratikern die Inkohärenz zwischen semantischer Begrifflichkeit, die nur Seiendes formulieren kann, und empirischer Wirklichkeit, deren Geschichtlichkeit sich erst im Werden und Vergehen entfaltet, in aller Deutlichkeit bewusst. Die Lösung dieses Konflikts glaubt Parmenides gefunden zu haben. Logisch korrekt, aber inhaltlich falsch postuliert er: Das Seiende ist; das Nicht-Seiende (sprich: Vergängliche) ist nicht.[8] Durch diese unzulässige Projektion einer rein formalen Wahrheit kam es zur hierarchischen Unterordnung der sinnlichen Wirklichkeit unter die Geisteswelt. Nietzsche über die Philosophen, die jener Tradition Folge leisten: Sie glauben einer Sache eine Ehre anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, (...)  wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten, — sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachsthum sind für sie Einwände, — Widerlegungen sogar. Was ist, wird nicht; was wird ist nicht ... Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an's Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach Gründen, weshalb man's ihnen vorenthält. „Es muss ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo steckt der Betrüger?” — „Wir haben ihn, schreien sie glückselig, die Sinnlichkeit ist's! Diese Sinne, die auch sonst so unmoralisch sind, sie betrügen uns über die wahre Welt. (...)“[9]

Doch die Sinne, widerspricht Nietzsche entschieden, lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer ... Die „Vernunft” ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht ... Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die „scheinbare” Welt ist die einzige: die ,wahre Welt ist nur hinzugelogen[10]

So kommt es schließlich zur vollständigen Aufhebung des Dualismus von Schein und Sein, Wahrheit und Lüge, denn indem wir die wahre Welt abgeschafft haben, (...) haben wir auch die scheinbare abgeschafft[11] und es bleibt die unergründbare, vereinzelte Phänomenalität des Daseins zurück, jedoch nicht als Gegensatz irgendeines Wesens, (...) nicht als (...) todte Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und wohl auch abnehmen könnte, sondern (...) als das Wirkende und Lebende selber.[12]

 



[1] Nietzsche F.W, „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, Deutscher Taschenbuch Verlag München 21999, Kap.1/S.875

[2] Ebd.. Kap.1/S.880

[3] Ebd.. Kap.1/S.879

[4] Henning O., S.220

[5] Ebd..

[6] Jaspers K., „Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens“, Walter de Gruyter Verlag, Berlin, 31981, S. 187

[7] Nietzsche F.W., „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, Kap.1/S.877

[8] Kunzmann, Burkard, Wiedmann, S. 33

[9] Nietzsche F.W., „Götzendämmerung“, im Kapitel „Die Vernunft in der Philosophie“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 21999, S.74

[10] Ebd. S.75

[11] Henning O., S. 258

[12] Ebd.

 

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