Bis hierher gelesen könnte man meinen, Nietzsche sei ein träumerischer Ästhetizist,
ein romantischer Schwärmer, ein dunkelmännischer Feind der Aufklärung gewesen. In gewisser Weise ist diese Annahme gar nicht
so verkehrt, d.h. sofern man nur seine jüngere Geistesentwicklung berücksichtigt. Im Ganzen betrachtet wären solche Bezeichnungen
aber grundfalsche Reduktionen.
Nietzsche war sehr wohl Philosoph. Und es gab für ihn auch eine Wahrheit, um die
er sich mit philosophischem Ernst bemühte. Nur ist diese Wahrheit weder konsenstheoretisch, noch pragmatisch, sondern alleine
vitalistisch zu verstehen. Vitalistisch meint hier das Prinzip, dass als wahr nur das gilt, was über Erkenntnis
das Leben steigert. Diese Steigerung erfolgt für Nietzsche immer nur durch geistige Selbstüberwindung, durch die bewusste Verneinung altbewährter
Ideale und die Suche nach neuen Möglichkeiten des Daseins.
Diese letztgenannte Suche ist nun Aufgabe eines neuen Idealtypus, der plötzlich
und ohne Vorwarnung die bisher ganz im Zeichen der Kunst stehende Bühne der Nietzscheanischen Philosophie betritt: Der Freigeist.
Bereits die französischen Moralisten, also unter anderem Montaigne, La Rochefoucault
und Voltaire, setzen den »esprit libre« oder »libre penseur« auf das Banner einer vermeintlich souveränen Aufklärung. Nietzsche folgt der Tradition zwar, führt den Begriff aber über die bisherige Definition hinaus.
Für ihn lebt der Freigeist eine Art »geistiges Nomadentum«, ein beständiges Umherschweifen,
Sich-Überwinden, Aufbrechen und Brechen mit allem, was ihm heilig und unverrückbar erscheint. Auf die Suche nach fremden Sitten
und Kulturen begibt er sich nur, um seine eigenen zu relativieren. Er hasst (...) alle Gewöhnungen und Regeln, alles Dauernde und Definitive. Denn alles Gewohnte zieht ein
immer fester werdendes Netz von Spinneweben um uns zusammen. Freiheit bedeutet in diesem Kontext das Ende der Entfremdung, das Zu-sich-kommen und Loslösen von allem, was nicht dem
eigenen Selbst angehört. Jedoch jeder, der frei werden will, (muss) es durch sich selber werden (...), und dass Niemandem die Freiheit als ein
Wundergeschenk in den Schooss fällt.
Der Freigeist gilt hier folglich als Verteidiger der eigenständigen »vita contemplativa«,
in einer Welt, wo der Glaube an Arbeit, Staat und Religion den Geist versteift und gefangen hält. Er ist aber auch der Pionier
des Lebens, der Vor- und nicht Nachdenker, der Erprober neuer Möglichkeiten des Daseins und Erschaffer neuer Werte. So schreibt Nietzsche in »Menschliches Allzumenschliches«, seinem »Buch für freie Geister«: Grösse heisst:
Richtung-geben.— Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und
fortführt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung
angiebt, welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist.
Den Gegensatz zum Freigeist liefert nun der gebundene Geist. Dieser nimmt
seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die
verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden
hat, sondern er fand das Christenthum und das Engländerthum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie Jemand, der in einem Weinlande
geboren wurde, ein Weintrinker wird.
Als solche gebundenen Geister entdeckt Nietzsche jetzt die Frommen, die Tugendhaften,
die Moralischen, aber auch die Künstler und Dichter, welche der Gegenwart durch ein Licht verhelfen, das sie von der Vergangenheit
herstrahlen machen. Zwar gelten sie als die Erleichterer des Lebens, aber im Grunde heilen und beschwichtigen
(sie) nur vorläufig, nur für den Augenblick (...), und halten sogar die Menschen (davon) ab, an einer wirklichen Verbesserung
ihrer Zustände zu arbeiten
Diese Stelle ist wirklich außergewöhnlich, wenn man bedenkt, wie Nietzsche früher
noch von der Kunst, als der »Sinnstifterin des Lebens«, ja der »Lebens-erhalterin« überhaupt geschwärmt hat.
Überhaupt muss einem aufmerksamen Leser seiner ersten Schriften die große Wende von der dionysischen Verklärung zur apollinischen
Aufklärung, welche in »Menschliches Allzumenschliches« ihren Kulminationspunkt findet, sehr kurios vorkommen, als hätte der Autor seine Überzeugungen gewechselt, wie ein
Kleidungsstück.
Tatsächlich kommt es nach der Enttäuschung in Bayreuth zu einem großen Umschwung
in seiner Denkweise. In einem Brief an Louise Ott, die er bei den Festspielen kennengelernt hat, schreibt er, es sei ein verhängnisvoller
Irrtum gewesen, jene metaphysische Vernebelung alles Wahren und Einfachen, der Kampf mit der Vernunft gegen die Vernunft,
welcher im Allem und Jedem ein Wunder und Unding sehen möchte. Der »Kampf mit der Vernunft gegen die Vernunft« ist wahrscheinlich ein von Max Stirner abgeleiteter Terminus für die Selbstbeschränkung des
Wissens, welche, als Regulator der Erkenntnis, darauf acht gibt, dass das Leben an seiner Vergeistigung nicht zu Grunde geht.
Nun aber entdeckt Nietzsche, dass eine mythische Selbstverzauberung im dionysischen
Sinne dem Leben ebenso wenig dienlich ist, wie ein geistiger Masochismus. Die tragische Empfindung liegt zwar näher an dem
eigentlichen Weltgrunde, leitet zwar eher zur philosophischen Tiefe der Anschauung und zur Einsicht in die Ungerechtigkeit
allen Daseins hin, - in übertriebener Dosis führt sie aber zum »praktischen Pessimismus«, zur krankhaften Apathie und zur
romantischen Selbstmumifizierung des eigenen Denkens, das letztlich in irgend einem Winkel des eigenen Bewusstseinszimmers
berauscht sitzen bleibt.
Genauso wie Sokrates glaubt Nietzsche nun, das Dasein corrigieren zu
müssen. Anders als sein »Erzfeind«,
möchte er aber zuerst weislich unterscheiden, welche menschlichen Übel fundamental und unverbesserlich seien und welche
verbessert werden könnten.
Davon ausgehend behauptet Nietzsche, dass die Bedürfnisse, welche die Religion
befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind. Diese selbst (könne) man schwächen und ausrotten.
Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil,—alles
Vorstellungen, welche nur aus Irrthümern der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung verdienen.
Anders als Schopenhauer, der von den Menschen als notwendig metaphysische Wesen
gesprochen hat, versteht Nietzsche den Trieb nach Religiosität, Jenseits-erschaffung und teleologischer Trostbedürftigkeit
als das kontingente Produkt einer jahrhundertelangen Gewöhnung, der man prinzipiell entgegenwirken könnte. Dies zu tun, hält
er für notwendig, da der Mensch, je mehr (er) dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger (...) die
Ursachen des Uebels in's Auge fassen und beseitigen kann. Anders formuliert bedeutet das: Je mehr die Herrschaft der
Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in's
Auge.