Sechstes Kapitel: Der Freigeist

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6. DER FREIGEIST

EIN SCHRITT IN RICHTUNG AUFKLÄRUNG

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Bis hierher gelesen könnte man meinen, Nietzsche sei ein träumerischer Ästhetizist, ein romantischer Schwärmer, ein dunkelmännischer Feind der Aufklärung gewesen. In gewisser Weise ist diese Annahme gar nicht so verkehrt, d.h. sofern man nur seine jüngere Geistesentwicklung berücksichtigt. Im Ganzen betrachtet wären solche Bezeichnungen aber grundfalsche Reduktionen.

Nietzsche war sehr wohl Philosoph. Und es gab für ihn auch eine Wahrheit, um die er sich mit philosophischem Ernst bemühte. Nur ist diese Wahrheit weder konsenstheoretisch, noch pragmatisch, sondern alleine vitalistisch zu verstehen. Vitalistisch meint hier das Prinzip, dass als wahr nur das gilt, was über Erkenntnis das Leben steigert.[1] Diese Steigerung erfolgt für Nietzsche immer nur durch geistige Selbstüberwindung, durch die bewusste Verneinung altbewährter Ideale und die Suche nach neuen Möglichkeiten des Daseins.

Diese letztgenannte Suche ist nun Aufgabe eines neuen Idealtypus, der plötzlich und ohne Vorwarnung die bisher ganz im Zeichen der Kunst stehende Bühne der Nietzscheanischen Philosophie betritt: Der Freigeist.

Bereits die französischen Moralisten, also unter anderem Montaigne, La Rochefoucault und Voltaire, setzen den »esprit libre« oder »libre penseur«[2] auf das Banner einer vermeintlich souveränen Aufklärung.[3] Nietzsche folgt der Tradition zwar, führt den Begriff aber über die bisherige Definition hinaus.

Für ihn lebt der Freigeist eine Art »geistiges Nomadentum«, ein beständiges Umherschweifen, Sich-Überwinden, Aufbrechen und Brechen mit allem, was ihm heilig und unverrückbar erscheint. Auf die Suche nach fremden Sitten und Kulturen begibt er sich nur, um seine eigenen zu relativieren.[4] Er hasst (...) alle Gewöhnungen und Regeln, alles Dauernde und Definitive. Denn alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz von Spinneweben um uns zusammen.[5] Freiheit bedeutet in diesem Kontext das Ende der Entfremdung, das Zu-sich-kommen und Loslösen von allem, was nicht dem eigenen Selbst angehört.[6] Jedoch jeder, der frei werden will, (muss) es durch sich selber werden (...), und dass Niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schooss fällt.[7]

Der Freigeist gilt hier folglich als Verteidiger der eigenständigen »vita contemplativa«, in einer Welt, wo der Glaube an Arbeit, Staat und Religion den Geist versteift und gefangen hält. Er ist aber auch der Pionier des Lebens, der Vor- und nicht Nachdenker, der Erprober neuer Möglichkeiten des Daseins und Erschaffer neuer Werte.[8] So schreibt Nietzsche in »Menschliches Allzumenschliches«, seinem »Buch für freie Geister«: Grösse heisst: Richtung-geben.— Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt, welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist.[9]

Den Gegensatz zum Freigeist liefert nun der gebundene Geist. Dieser nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und das Engländerthum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie Jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird.[10]

Als solche gebundenen Geister entdeckt Nietzsche jetzt die Frommen, die Tugendhaften, die Moralischen, aber auch die Künstler und Dichter, welche der Gegenwart durch ein Licht verhelfen, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen. Zwar gelten sie als die Erleichterer des Lebens, aber im Grunde heilen und beschwichtigen (sie) nur vorläufig, nur für den Augenblick (...), und halten sogar die Menschen (davon) ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten[11]

Diese Stelle ist wirklich außergewöhnlich, wenn man bedenkt, wie Nietzsche früher noch von der Kunst, als der »Sinnstifterin des Lebens«, ja der »Lebens-erhalterin« überhaupt geschwärmt hat. Überhaupt muss einem aufmerksamen Leser seiner ersten Schriften die große Wende von der dionysischen Verklärung zur apollinischen Aufklärung, welche in »Menschliches Allzumenschliches« ihren Kulminationspunkt findet, sehr kurios vorkommen, als hätte der Autor seine Überzeugungen gewechselt, wie ein Kleidungsstück.

Tatsächlich kommt es nach der Enttäuschung in Bayreuth zu einem großen Umschwung in seiner Denkweise. In einem Brief an Louise Ott, die er bei den Festspielen kennengelernt hat, schreibt er, es sei ein verhängnisvoller Irrtum gewesen, jene metaphysische Vernebelung alles Wahren und Einfachen, der Kampf mit der Vernunft gegen die Vernunft, welcher im Allem und Jedem ein Wunder und Unding sehen möchte.[12] Der »Kampf mit der Vernunft gegen die Vernunft« ist wahrscheinlich ein von Max Stirner abgeleiteter Terminus für die Selbstbeschränkung des Wissens, welche, als Regulator der Erkenntnis, darauf acht gibt, dass das Leben an seiner Vergeistigung nicht zu Grunde geht.

Nun aber entdeckt Nietzsche, dass eine mythische Selbstverzauberung im dionysischen Sinne dem Leben ebenso wenig dienlich ist, wie ein geistiger Masochismus. Die tragische Empfindung liegt zwar näher an dem eigentlichen Weltgrunde, leitet zwar eher zur philosophischen Tiefe der Anschauung und zur Einsicht in die Ungerechtigkeit allen Daseins hin, - in übertriebener Dosis führt sie aber zum »praktischen Pessimismus«, zur krankhaften Apathie und zur romantischen Selbstmumifizierung des eigenen Denkens, das letztlich in irgend einem Winkel des eigenen Bewusstseinszimmers berauscht sitzen bleibt.[13]

Genauso wie Sokrates glaubt Nietzsche nun, das Dasein corrigieren zu müssen.[14] Anders als sein »Erzfeind«, möchte er aber zuerst weislich unterscheiden, welche menschlichen Übel fundamental und unverbesserlich seien und welche verbessert werden könnten.[15]

Davon ausgehend behauptet Nietzsche, dass die Bedürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind. Diese selbst (könne) man schwächen und ausrotten. Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil,—alles Vorstellungen, welche nur aus Irrthümern der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung verdienen.[16]

Anders als Schopenhauer, der von den Menschen als notwendig metaphysische Wesen gesprochen hat, versteht Nietzsche den Trieb nach Religiosität, Jenseits-erschaffung und teleologischer Trostbedürftigkeit als das kontingente Produkt einer jahrhundertelangen Gewöhnung, der man prinzipiell entgegenwirken könnte. Dies zu tun, hält er für notwendig, da der Mensch, je mehr (er) dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger (...) die Ursachen des Uebels in's Auge fassen und beseitigen kann. Anders formuliert bedeutet das: Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in's Auge.[17]



[1] Lisson F., S.101

[2] „Freigeist“ oder „Freidenker“

[3] Henning O., S. 236

[4] Ebd. S.236f.

[5] Nietzsche F.W., „Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, Insel Verlag Frankfurt am Main 12000, Aph.427/S.238

[6] Henning O., S. 235

[7] Ebd. S.235

[8] Ebd. S.236f.

[9] Nietzsche F.W., „Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, Aph.521/S.275

[10] Ebd. Aph.226/S.165

[11] Ebd. Aph.148/S.123f.

[12] N. zitiert von Safranski R., S.138

[13] Nietzsche F.W., „Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, Aph.4/S.13

[14] Nietzsche F.W., „Die Geburt der Tragödie“, S.84

[15] N. zitiert von Safranski R., S.157

[16] Nietzsche F.W., „Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, Aph.27/S.40

[17] Ebd. Aph.108/S.91

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(c) Philemon