Siebtes Kapitel: Moral hat Geschichte
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7. MORAL HAT GESCHICHTE

ÜBER DEN URSPRUNG VON »GUT« UND »BÖSE«

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Aber nicht nur die Religion empfindet Nietzsche als Gefahr für das menschliche Leben. Mit seiner Schrift »Morgenröthte«, die bezeichnenderweise zuerst »Pflugschar« heißen sollte, wendet er sich mit aller Entschiedenheit gegen die bestehenden Moraltheorien. Er versteht sich dabei selbst als der erste Moralkritiker, der die Moralität schlechthin, die Moralität an-sich hinterfragt, und keinen Skrupel hat, sie gegebenenfalls dabei zu untergraben. So konstatiert er: In aller bisherigen „Wissenschaft der Moral“ fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen „Begründung der Moral“ nannten und von sich forderten, war, im rechten Licht gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe.

Doch warum möchte Nietzsche die Moral unbedingt als Problem fassen? Er sagt es selbst: „Aus Moralität!“. Auch zu ihm redet noch ein »Du sollst«, auch er folgt noch der Idee der Wahrhaftigkeit, dem intellectualen Gewissen[1], welches verhindert, dass wir uns (...) Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten, und uns in in Das hineinflüchten, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas “Unglaubwürdiges,” heisse es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit oder Nächstenliebe.[2] In diesem Sinne kann Nietzsche von der Selbstaufhebung der Moral sprechen.

Bei dieser meta-moralischen und doch zugleich moralisch-bedingten Kritik versucht Nietzsche darzulegen, dass die Herkunft der Moral nicht in irgendwelchen a-priori geschauten, metaphysischen Wahrheiten, sondern in rein wissenschaftlich erklärbaren, physiologischen Trieben besteht, welche der Mensch erst a-posteriori einer moralischen Interpretation[3] unterworfen hat.[4]

Als ein solcher Trieb stellt sich beispielsweise die Grausamkeit heraus, wobei die Tatsache, dass sie von den meisten Moralen als »das Böse« schlechthin tituliert wird, nicht gegen ihre moralische Präsenz spricht. Alleine haben die notwendigen Hemmungen der Sozialisation, sowie der Austritt des Menschen aus dem tierischen Zustand dazu geführt, dass sich die Grausamkeit bis zur Unkenntlichkeit sublimieren und auf geistige Umwege begeben musste. Dabei hat gerade die Kultur am meisten von ihrer Existenz profitiert. So ist der Tugendhafte, der sich durch Ehrgeiz und Fleiß vor den anderen auszeichnen will, im Grunde seines Antriebs grausam, denn er genießt sich selbst im Neid anderer. Auch die Schaffenseuphorie des Künstlers ist eine Art vorempfundene Wollust, den artistischen Konkurrenten zu übertrumpfen.[5] So kommt Nietzsche zu der Behauptung: Fast alles, was wir „höhere Cultur“ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz: jenes „wilde Thier“ ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht.[6]

Ein weiteres Motiv der Moral findet Nietzsche in der Furchtsamkeit. So behauptet er: Hinter dem Grundsatz der jetzigen moralischen Mode: „moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie für andere“ sehe ich einen sozialen Trieb der Furchtsamkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellektuell vermummt: dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, dass dem Leben alle Gefährlichkeit genommen werde, welche es früher hatte, und dass daran jeder und mit allen Kräften helfen solle: deshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädikat „gut“ bekommen![7]

Diese und ähnliche Enthüllungen, welche sich oft nur in wenigen Aphorismen auflösen, stellen aber nicht das Zentrum seiner Moralkritik dar. Das Wesentliche und Markerschütternde entfaltet sich erst in der »Genealogie der Moral«, einem Werk, das bereits Nietzsches Spätperiode zugeordnet werden muss.

Die Genealogie ist eine von Nietzsche entworfene, wissenschaftliche Methode, die Herkunft von gegenwärtig Geltendem aus bestimmten historischen Situationen und psychischen Dispositionen zu rekonstruieren.[8] Mit Hilfe dieses Schemas postuliert Nietzsche eine meta-moralische Entwicklungstheorie, die abseits metaphysischer Verschleierung oder moderner Teleologie erklären soll, wie die normativen Werte von »Gut« und »Böse« eigentlich entstanden sind. Dabei sollte man aber beachten, dass die gleich folgenden Bezeichnungen idealtypisch und nicht konkret-historisch zu verstehen sind und im Kollektiv ein Muster bilden, das zwar auf jede beliebige Machtrelation anwendbar, jedoch in seiner reinen Form unmöglich anzutreffen ist.

Lange vor dem Auftreten des Christentums gab es zwei Gruppen, die miteinander im Streit lagen. Eine der Gruppen trug den Sieg davon, die andere war gezwungen, sich zu unterwerfen. Durch lange Gewöhnung und gegenseitige Distanzierung, die eine Mischung der Parteien verhinderte, entstand eine Herren- und eine Sklavenrasse.[9] Die Herrenrasse war es gewohnt, ja war kraft ihrer Abstammung dazu verpflichtet, nicht nur Befehle zu erteilen, sondern auch Werte und Gesetze zu erschaffen. Die Sklaven hingegen sahen den Sinn ihres Lebens, d.h. die einzige Möglichkeit, zu überleben, im Gehorchen und kompromisslosen Übernehmen autoritärer Wertschätzungen.

Die Versklavung, diese auf Heteronomie ausgerichtete Züchtung und Domestizierung eines bis dato freiheitsliebenden Wesens, führte nun zu einer Triebverschiebung der versklavten Physiologien. In dem Maße, in dem die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist,[10] wandten sich die Affekte nach innen. Es kam zu einer Internalisierung und Verinnerlichung der Befehle des Herren, und in Folge zu einer Spaltung in ein handelndes und ein reflexives Wesen. Es bildete sich das heraus, was wir gemeinhin das Gewissen nennen.[11]

Ganz allgemein ist das Gewissen für Nietzsche das Resultat einer Entwicklung, in sich ein Tier heranzuzüchten, das versprechen darf. Es ist das durch die Erziehung konstituierte Gedächtnis sittlicher Forderungen, also etwas, was dem eigentlichen Selbst des Menschen gar nicht zukommt, ein Fremdkörper, der einer Allgemeinheit zur Absicherung und Erhaltung des sozialen Menschseins dient.[12] Auch für den Wiener Psychologen Sigmund Freud wird das Gewissen erst durch die Hemmung und Verwerfung bestimmter in uns bestehender Wunschregungen[13] gebildet. Er nennt es in Abgrenzung zum Ich, auch das Über-Ich.

Gehen wir aber vorerst zurück zu unserer moralischen Genealogie. Wie gesagt, war es der Herrenrasse vorbehalten, die Werte der Gesellschaft zu bestimmen. Für sie gab es allerdings kein »Gut« und »Böse«, im Sinne von »Sozial« und »Asozial« oder »Selbstlos« und »Selbstsüchtig«, sondern nur eine Unterscheidung von »Vornehm« und »Niedrig«.

Vornehm ist, wer stark, entschlossen und angstfrei genug ist, Vergeltung zu üben, wenn ihm etwas angetan wurde.[14] Vornehm ist ebenso, wer sich seiner Taten nicht schämt, weil er immer der festen Überzeugung ist, das Richtige zu tun. Ein vornehmer Charakter passt sich kaum an, sucht nicht nach Anerkennung, kennt keine Eitelkeit. Er hat an sich selbst genug und gebraucht die anderen – wenn überhaupt – nur als Mittel für die eigenen Zwecke, nicht aber um sich in seinem Recht bestätigt zu fühlen.

Niedrig hingegen ist, wer für sich selbst nicht genügend Wertschätzung empfindet, um sich wehren zu wollen, mit wie beschränkten Mitteln auch immer[15], wer sich – einmal in Not geraten – angstvoll nach fremder Hilfe umsieht und sich selbst nicht zu helfen weiß.

Vornehm und niedrig sind also Bezeichnungen für das unterschiedliche Maß der Selbstachtung. Aus der Perspektive des Vornehmen ist der schlechte Mensch der nichtige Mensch, von dem man nichts zu befürchten hat, weil er noch nicht einmal sich selbst achtet.[16]

Aber diese fehlende Selbstachtung kann sogar für den Vornehmen gefährlich werden, denn wer mit sich unzufrieden ist, ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen[17]

Tatsächlich gewannen Hass, Neid, Missgunst, Argwohn und andere Rachegefühle in der sklavischen Gefühlswelt eine derartige Macht, dass die aufgestauen Affekte nach Veräußerung, nach Entladung drängten. Dies geschah entweder im offenen Kampf mit der herrschenden Kaste (Spartacus), der aber meist erfolglos blieb, oder indem das Ressentiment selbst schöpferisch (wurde) und Werte[18] erzeugte, deren normative Bedingungen die eigene Selbstachtung wieder ermöglichten. Den letzteren Fall bezeichnet Nietzsche als den Sklavenaufstand in der Moral[19], indem nun (die) Schwäche (...) zum Verdienst umgelogen werden (sollte), (...) und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur „Güte“; die ängstliche Niedrigkeit zur „Demut“; die Unterwerfung vor denen, die man hasst, zum „Gehorsam“ (...) Das Unoffensive des Schwachen, die Feigheit selbst, an der er reich ist, sein An-der-Tür-Stehen, sein unvermeidliches Warten-Müssen kommt hier zu guten Namen, als „Geduld“, es heißt auch wohl die Tugend; das Sich-nicht-rächen-können heißt Sich-nicht-rächen-Wollen, vielleicht selbst Verzeihung (...) Auch redet man von der „Liebe zu seinen Feinden“ – und schwitzt dabei.[20]

Aus Überdruss und einer Art gesundheitlichem Instinkt (deren kranke Wurzeln aber nur verdrängt, nicht vernichtet werden konnten) begann der Sklave die Werte seines Herren zu verleugnen. Er warf die moralische Last, welche ihn zur Inferiorität degradierte, zürnend von sich und schuf sich Normen, Vorbilder und Ideale, denen sein schwaches Wesen besser gerecht werden konnte. Aus »Vornehm« und »Niedrig« wurde jetzt »Gut« und »Böse«. Der vornehmen Unterscheidung von »Wehrbar« und »Wehrlos« setzte der Schwache jene von »Nutzbar« und »Nutzlos« entgegen. Die Attribute »Stolz« und »Feige« wurden zu »Demut« und »Selbstsucht« umgedeutet. Es kam also im wahrsten Sinne zu einer Umwerthung aller Werte.

Während jedoch der Herr, als ein Gesetzgebender, über die historische Gesetztheit und Aufhebbarkeit seiner Werte Bescheid wusste, musste der Sklave sich – auf Grund seiner Gewohnheit, Normen als etwas Präexistentes zu erfahren – zuerst eine neue Herrscherfigur imaginieren. Denn nur indem er sich unterordnen konnte, fühlte er sich wohl, nur indem er an einen irgend gearteten Sinn seines Lebens, d.h. eigentlich an eine Aufgabe für sein Leben glauben konnte, bewahrte er sich selbst vor dem Anflug des schlechten Gewissens.

Dementsprechend stellt Günther Anders im 2. Band seines Werks »Die Antiquiertheit des Sinns« die völlig berechtigte Frage: Ist es wirklich so gewiß, daß Sinn-Haben ein Ehrenprädikat, und daß keinen Sinn zu haben, ein Manko ist? Läuft nicht vielleicht letztlich unsere Suche nach „Sinn“ auf Suche nach Dienstbarkeit hinaus?[21]

Wer konnte nun aber jene sich widersprechenden Eigenheiten von demutsvoller Güte und herrschender Macht, toleranter Selbstlosigkeit und richtender Willensstärke, unbedingter Liebe und gnadenloser Gerechtigkeit in sich vereinen? Wer anders, als ein leidender Gott, oder wie Nietzsche treffend sagt, ein Gott am Kreuze?[22]

 



[1] Nietzsche F.W., „Die Fröhliche Wissenschaft“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 62003, S.373

[2] Nietzsche F.W., „Morgenröte“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 62003, S.16

[3] „Es gibt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdetung von Phänomenen“ N. zitiert in „Das Lexikon der Nietzsche Zitate“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2001, S.102

[4] Safranski R., S. 192

[5] Safranski R., S. 190

[6] Nietzsche F.W., „Jenseits von Gut und Böse“, Deutscher Taschenbuch Verlag München72002, S. 166

[7] Nietzsche F.W. , „Morgenröte“, S.154

[8] Henning O., S.210

[9] Ebd. S.210

[10] Nietzsche F.W., „Jenseits von Gut und Böse“, S.322

[11] Ebd.

[12] Henning O., S.244

[13] Sigmund Freud zitiert v. Henning O., S.245

[14] Safranski R., S.188

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] N. zitiert in „Das Lexikon der Nietzsche Zitate“, S.114

[18] Nietzsche F.W., „Zur Genealogie der Moral“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 72002, S.270

[19] Ebd. S.268

[20] Ebd. S. 281f.

[21] Günther Anders zitiert von Liessmann K.P./Zenaty G, „Vom Denken. Einführung in die Philosophie“, Universitäts- Verlagsbuchhandlung, Wien 1998, S. 322

[22] Nietzsche F.W., „Jenseits von Gut und Böse“, S.67

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(c) Philemon