Achtes Kapitel: Kritik am Christentum
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8. KRITIK AM CHRISTENTUM

VON DER »UMWERTHUNG ALLER WERTE«

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Vielleicht hat der Leser schon zu Beginn der Genealogie geahnt, um welche Völkerschaften es sich bei Nietzsches Darlegungen handelt. Spätestens bei der Umwertung aller Werte dürfte ihm wenigstens klar geworden sein, wo die neuen Wertschätzungen der Sklavenrasse eigentlich hinführen, welche Richtung sie zu unserer Überraschung angeben: es ist unsere Normalität, d.h. die Welt unserer eigenen moralischen Empfindungen, nur unter einem Lichte betrachtet, das uns der von Kindesbeinen an indoktrinierten Auffassung entfremdet. Das ist kein Zufall, sondern war von Nietzsche so beabsichtigt.

Wo liegt aber das Fundament unserer gegenwärtig noch immer herrschenden Moralität, besser: wo hat sie ihren Ursprung? – die Antwort ist ersichtlich, wenn man sich einmal zu Bewusstsein führt, wer den Großteil der menschlichen Zeitgeschichte für das innere »Seelenheil« des Menschen zuständig war: das Christentum.

Nun enthüllt sich die Herrenrasse, welche die »Niedrigen« unterdrückt, als das Imperium Romanum und die Sklavenrasse, die aus ihrem Ressentiment Werte schöpft, stellt sich heraus, als das orientalische Judentum. Nietzsche schreibt: Es ist der Orient, der tiefe Orient, es ist der orientalische Sklave, der (...) an Rom und seiner vornehmen und frivolen Toleranz (...) Rache nahm.

Die Umwertung wurde zwar von den Juden eingeleitet, kam aber erst durch die Christianisierung zu ihrem Höhepunkt. Dabei versteht Nietzsche das Christentum (...) nicht als eine Gegenbewegung gegen den jüdischen Instinkt, sondern als dessen Folgerichtigkeit selbst[1], (...) als die letzte jüdische Konsequenz[2].

Was nun, außer der augenscheinlich niedrigen Herkunft, empfand Nietzsche als so schlecht am Christentum? Wieso machte er sich die Mühe, seine Entwicklungs-geschichte genealogisch zu enthüllen? Denn widerlegen wollte er es gar nicht. Man widerlegt das Christentum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht.[3] Was meint Nietzsche hier mit »Krankheit«? Lauschen wir weiter: Das Christentum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Überdruss des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein „anderes“ oder „besseres“ Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die „Welt“, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen ins Nichts[4] Jetzt wird uns klarer, was Nietzsche dazu veranlasst hat, das Christentum mit allen genealogischen Feinheiten seiner unschuldigen Vergangenheit zu berauben (d.h. was bis dato noch davon übrig war). Die Motive, die sich hier in einem reaktiven Angriff gegen die christliche Religion äußern, sind noch dieselben, welche Jahre zuvor die »Geburt der Tragödie« hervorgebracht haben. Alleine zeigen sie sich hier als kritische Verneinung, während sie sich in seinem Frühwerk als leidenschaftliche Bejahung darstellten. In der nachträglich verfassten Vorrede des Tragödienbuches gibt Nietzsche selbst eine Rechtfertigung seiner Schrift, welche uns dabei helfen soll, seine Einstellung zum Christentum zu verstehen. Dort schreibt er: Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens, eine rein artistische, eine antichristliche. Wie sie nennen ? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit - denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist? - auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hiess sie die dionysische.

Dionysos ist es, der hier unter dem Deckmantel einer apollinischen Wissenschaftlichkeit, das überströmende, haltlose Leben verteidigt, indem er seinen göttlichen Widerpart mit den eigenen Waffen bedroht. Der Wille zur diesseitigen, unverfälschten Wirklichkeit, die Lust am ewigen Werden und Vergehen treibt ihn, das halsstarrige und auf ein Jenseits ausgerichtete Götzenbild des Christentums umzuwerfen. Denn weder die Moral, noch die Religion berührt sich im Christentum mit irgendeinem Punkt der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen (»Gott«, »Seele«, »Ich«, »Geist«, »der freie Wille« – oder auch »der unfreie«), lauter imaginäre Wirkungen (»Sünde«, »Erlösung«, »Gnade«, »Strafe», »Vergebung der Sünde«). (...) Diese reine Fiktions-Welt unterscheidet sich dadurch sehr zu ihren Ungunsten von der Traumwelt, dass Letztere die Wirklichkeit widerspiegelt, während sie die Wirklichkeit fälscht, entwertet, verneint. (...) jene ganze Fiktions-Welt hat ihre Wurzel im Haß gegen das Natürliche (-die Wirklichkeit-), sie ist der Ausdruck eines tiefen Mißbehagens am Wirklichen... Aber damit ist alles erklärt. Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden heißt eine verunglückte Wirklichkeit sein[5]

Die Sklavenrasse – oder anders gesagt: die christlich-jüdische Gemeinde – fand in Gott zwar den Erlöser von den herrischen Wertschätzungen und erhielt so bis zu einem gewissen Grad auch die verlorene Selbstachtung wieder; dies änderte aber weder etwas an ihrer physiologischen Beschaffenheit, noch an ihrer sozialen Stellung. So hatte ihre Fantasietätigkeit, welche durch die körperlichen Hemmungen stark ausgeprägt war, dank ihrer neu gewonnen psychischen Souveränität, freien Lauf, sich eine Welt voller Bilder, Symbole und Geisterwesen zu erdichten, um die physische Bedingtheit zu kompensieren. Doch diese Idole und Über-Wirklichkeiten hörten bald auf lediglich tröstend und befreiend zu wirken. Sie gelangten schließlich in die Höhen des Gewissens und forderten dort ihr Recht ein. So kam es zu einer Aufspaltung des Geistes, in ein Wesen, das befiehlt, und ein Wesen, das gehorcht. Der fromme Christ war kein Individuum mehr, er war ein Dividuum[6].

Gewollt und genossen wird dieses Zerbrechen seiner selbst[7] vom moralisch-religiösen Asketen. Dieser hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. Denn in jeder asketischen Moral bietet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisieren.[8]

 

Dieser Asket nun, der in seiner radikalsten Weise oft zum Heiligen, zum Märtyrer ernannt wurde, lehrte der Herrenrasse eine neue Furcht, (...) eine neue Macht, die sie ehren mussten. Da sich das römische Reich die willentliche Selbst-verstümmelung, die freiwillige Entsagung und Unterwerfung unter eine Idee, dieses allesamt wunderliche, fast unmenschliche Verhalten der praktizierenden Christen nicht erklären konnte, ließ es sich von den religiösen Begriffskäfigen einfangen und zum Gottglauben überreden.

Erst jetzt, wo der einst so stolze Herr beginnt sich selbst als »böse«, seine Stellung als »sündhaft« und »ungerecht« zu empfinden und seine »Erlösung« in der Demut vor dem Kreuz sucht, hat die niedrige Sklavenmoral den unverhofften Sieg davon getragen. Erst hier ist die Umwerthung aller Werte Wirklichkeit geworden.



[1] Nietzsche F.W., „Der Antichrist“, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig11986, S.42

[2] Ebd. S.43

[3] N. zitiert in „Das Lexikon der Nietzsche Zitate“, S.129

[4] Ebd.

[5] Nietzsche F.W., „Der Antichrist“, S.28f.

[6] Nietzsche F.W. „Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, S.65

[7] N. zitiert Safranski R., S.197

[8] Ebd.

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(c) Philemon