Im Nachlass Nietzsches aus dem Jahre 1886 findet man folgende, prophetisch anmutende Stelle: Was ich erzähle,
ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft
des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Notwendigkeit selbst ist hier am Werke: Diese Zukunft
redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündet überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits
gespitzt. Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich
nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.
Unter Nihilismus versteht Nietzsche die Tatsache, daß die obersten Werthe sich
entwerthen. Im Nihilismus fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das „Warum?“. Aber weshalb ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsere bisherigen Werte selbst es sind, die
in ihm ihre letzte Folgerung ziehen.
Wir sprachen bereits von der Selbstaufhebung der Moral durch den Willen zur Wahrheit.
Dieser Wille ist selbst tief moralisch, nämlich: ein Überbleibsel christlicher Wertschätzungen. Denn erst mit dem Aufkommen
des Christentums erlangte die Wahrheit, als Synonym Gottes, den Rang eines Ideals; erst durch die Erhebung bloßer Begrifflichkeiten
zu heiligen Prinzipien – während Worte früher nur dem Zweck der Verständigung dienten – zählte man Wahrhaftigkeit,
Redlichkeit und Ehrlichkeit zu den höchsten Tugenden. Selbst die »positivistischen« Wissenschaften, der »objektive« Historismus
und der Großteil der »atheistischen« Philosophie gehorchen, indem sie »die Wahrheit ihrerselbst willen« anstreben, einer christlichen
Tradition.
Durch diese genealogische Sicht bereichert, verstehen wir nun, was Nietzsche meint,
wenn er den Nihilismus als die notwendige Konsequenz unserer bisherigen Werthaltungen beschreibt. Der Wille zur Wahrheit ist
es, der im Nihilismus seine letzte Folgerung zieht. Diese lautet, dass es keinen Gott, kein überirdisches Prinzip,
kein unwandelbares, metaphysisches Gesetz gibt; weiters, dass der Glaube an die Vernunft-Kategorien ein Irrtum und die jenseitige Welt des Seins das Resultat einer Rache an der irdischen Wirklichkeit, und durchaus nicht
real ist. Aber auch der Wille zur Wahrheit muss sich eingestehen, dass das, was er sucht gar nicht existiert, dass er selbst
ein Wille zum Nichts ist, und besser zur Vernichtung einer Sache taugt, als zur Hervorbringung irgendeiner nachhaltigen Erkenntnis.
Diese Einsichten führen den Menschen aber in eine nie zuvor erlebte Aporie und
Orientierungslosigkeit. Eine Interpretation ging zugrunde: weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als
ob es gar keinen Sinn im Dasein gäbe, als ob alles umsonst sei. Die natürliche Folge ist Pessimismus, Lebensverneinung, Wille zum eigenen Nichtsein, psychologische Zustände also, wie
sie schon in der Philo-sophie Arthur Schopenhauers oder im Buddhismus den Grundton angeben. Aber Nietzsche erkennt hier die
reaktive Gebundenheit an die alten Ideale, den Phantom-schmerz, der den Verlust des übergeordneten Seins nicht verkraftet.
Zwar wurden die metaphysischen Wahrheiten abgeworfen, aber das Auge schielt noch immer hinauf in den Ideenhimmel und übersieht
dabei die nächstliegenden Dinge. Dieses Verhalten, in der die Einsicht in die Wertlosigkeit gegeben ist, ohne dass die Wertschätzung
dieser Einsicht folgen kann, bezeichnet Nietzsche als unvoll-ständige(n) Nihilism(us). Dieser äußert sich auf der einen Seite durch die bereits erwähnten Phänomene der pessimistischen Daseinsverneinung,
aber auch durch die Suche nach neuen Idealen, die den leeren Seinshorizont wieder füllen sollen. So glauben Demokratie und
Sozialismus an den Begriff der »Menschheit«, der Anarchismus an den Begriff der »Rebellion«, so setzen die Moralisten neuerdings
auf das Gewissen, die Geschichtswissenschaften auf die Vernunft, so verschreibt sich der Utilitarismus dem »Glück der Meisten«
und die Weltpolitik einem recht vage definierten »Fortschritt«.
Nietzsche betrachtet dieses Verhalten als sinnlos. Dem Nihilismus kann man nicht
ausweichen und die narkotische Betäubung mittels neuer Ideale wird ein böses Erwachen nach sich ziehen. Es gibt also nur eine
Möglichkeit: den radikalen Nihilismus: Der radikale Nihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins,
wenn es sich um die höchsten Werthe, die man anerkennt, (handelt) hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste
Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das „göttlich“, das leibhafte Moral sei. Was aber haben wir dadurch gewonnen, außer die Tatsache, dass wir alles verloren haben?
Nietzsche, der sich selbst für den ersten vollkommen Nihilist(en) Europas hält,
geht hier von der Möglichkeit aus, den Nihilismus mitsamt seiner psychologischen Symptome zu überwinden, wenn man ihn erst
in sich zu Ende gelebt hat. Der radikale, bzw. der vollkommene Nihilismus beinhaltet also die Möglichkeit einer Gegenbewegung, die wieder aus dem
Nihilismus hinausführt. Denn erst wenn die Entwertung der alten Werte abgeschlossen ist, kann das Schaffen neuer Werte beginnen,
ohne Gefahr zu laufen, wieder in denselben Fangnetzen der Vernunft hängenzubleiben. Wie diese neuen Werte aussehen sollen,
verrät Nietzsche nicht. Es würde auch entschieden gegen seinen philosophischen Standpunkt sprechen, uns hier irgendwelche
Vorschriften zu machen. Nur dass sie aus der Gutheißung des Werdens, in der Abhebung vom Sein, entstehen müssen, aus einem
dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl, - alleine das legt er uns nahe.
Wer aber besäße die Kraft, sich derartig zum Schlachtfeld der Werte zu machen,
alle Wünschbarkeiten in sich zu vernichten und diesem großen universalen »Nein«, noch ein ebenso großes »Ja« nachzusetzen, also aus Schutt und Asche etwas Leuchtendes, Zukunftsweisendes zu formen.
Nietzsche weiß genau, dass diese Vorstellung etwas Utopisches, Unmenschliches
an sich hat und setzt seine Hoffnung darum auch nicht auf seine Zeitgenossen.
Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische
Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, (...) dessen Einsamkeit vom
Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei -: während sie nur seine Versenkung, Vergrabung,
Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder ans Licht kommt, die Erlösung dieser Wirklichkeit
heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso
vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus,
dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und
dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts –
er muss einst kommen (...) – Aber was rede ich da? Genug! Genug! An dieser Stelle geziemt mir nur Eins, zu schweigen:
Ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem „Zukünftigeren“, einem Stärkeren,
als ich bin, - was allein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen . . .
|