1883 beginnt Nietzsche wie im Rausch an seinem ersten und zugleich letzten prosaischen
Werk zu schreiben, von dem er glaubt, dass es die Menschheit in zwei Hälften spalten wird. Der Titel »Also sprach Zarathustra«
birgt den Namen eines altiranischen Propheten in sich, der aber aus philosophischer Betrachtung keinen nennenswerten Bezug
aufweist und uns darum auch nicht weiter zu kümmern braucht.
Das Werk gilt als das meistgelesene, das umstrittenste, aber leider auch als das
häufigst missverstandene und missbrauchte Werk, das er jemals geschrieben hat. Es lässt auf Grund seiner sehr symbolisch-metaphorischen
Sprache unzählige Varianten der Interpretation zu, was schon den Nationalsozialismus auf die Idee gebracht hat, es zur Pflichtlektüre
der eigenen Rassenideologie zu erklären. Dabei hat man die wahren Motive und Werthaltungen Nietzsches willentlich verleugnet,
der in jedem Sinne anti-politisch, wie auch anti-anti-semitisch orientiert war und das deutsche Volk zeitlebens zutiefst verachtet
hat. So schreibt auch der Nietzsche-Interpret Volker Gerhardt über den demagogischen ‚Führer’: Unempfindlich
für die gedankliche Konsequenz in Nietzschse Aphorismen, unfähig, auch ihre Gründe und Widersprüche als Teil der Aussage zu
fassen, stumpf sowohl gegen den Erkenntnisanspruch wie auch gegen die Subtilität gerade der gemeinverständlichsten Worte »Größe«, »Macht« oder »Übermensch«,
liest Hitler Nietzsche von vornherein wie einen Parteipropagandisten, der ihm schlagkräftige Parolen liefert.
Nun aber zum Werk selbst, welches über die Vermittlung Zarathustras, unter anderem
drei Hauptgedanken zur Sprache bringt, die ich hier im Besonderen hervorheben möchte: den Tod Gottes, die Lehre vom Übermenschen
und den Gedanken der ewigen Wiederkehr.
Bereits in der zuvor erschienenen »Fröhlichen Wissenschaft« findet man einen Aphorismus,
der das Schwergewicht, den Nietzsche auf die nihilistische Formel »Gott ist tot« gelegt hat, in Form einer Fabel verdeutlichen
wird:
Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete,
auf den Markt lief und aufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ – Da dort gerade Viele von Denen
zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. (...) Der tolle Mensch sprang mitten
unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. "Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet,—ihr
und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns
den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt
sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts,
nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht
der leere Raum an? (...) Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung?—auch
Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?
Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet,—wer wischt diess Blut
von uns ab? (...) Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer
würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That,—und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That
willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!"—Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine
Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke
sprang und erlosch. "Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch
unterwegs und wandert,—es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das
Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese
That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne,—und doch haben sie dieselbe gethan!"
Der tolle Mensch hat nicht nur erkannt, dass Gott tot ist, sondern auch die letzten
Konsequenzen daraus gezogen, er ist also radikaler Nihilist. Die Marktgesellschaft, in die er sich begibt, hat ihren Glauben
an Gott zwar auch schon lange verloren, will aber nicht wahr haben, dass mit ihm auch jeder beglaubigte Sinngehalt der Welt,
jedes höhere Ziel, jedes »Warum?« im übergeordneten Sinne verloren gegangen ist. Sie steht daher für den »unvollständigen
Nihilismus«, der sich aus Angst und Bequemlichkeit an die alten Werte klammert.
Mit der paradox erscheinenden Formel“Gott ist tot« und der damit zusammen-hängenden
Unterstellung, dass wir ihn getötet haben, wird bewusst ein Appell suggeriert, der dem Leser die Verantwortung weniger
über den Verlust Gottes, als über das Erschaffen einer neuen Sinn- und Werthaftigkeit fühlbar machen soll. Nietzsches Motto
lautet, hier ausgedrückt durch die Worte Goethes: Uebrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine
Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben. Was im Vordergrund steht, ist also nicht die Erkenntnis über den Tod Gottes, sondern was daraus erwachsen kann, ist nicht
die nihilistische Zersetzung, sondern die wertschaffende Synthese.
Nun tritt Zarathustra auf die Bühne, der sich über den Tod Gottes längst im Klaren
ist und die Heraufkunft jenes ‚Erlösers’ predigt, von dem zu erzählen Nietzsche ihm achtungsvoll den Vorrang lassen
wollte. Zarathustra nennt ihn den Übermenschen.
Der Übermensch verkörpert die Heiligung des Diesseits, nachdem das Jenseits seine
Geltung verloren hat. Er ist zwar frei, d.h. nicht mehr besessen von Religion, er trägt sie aber in sich weiter, nachdem er
die Transzendenz Gottes in seine Immanenz zurückgenommen hat. Er ist zwar nihilistisch, sofern er an keine höhere Instanz, keinen übergeordneten Sinn mehr glaubt, aber er ist zugleich
die Überwindung des Nihilismus, weil er selbst diese höhere Instanz darstellt, welche den Menschen Sinn, Ziel und Wert verleiht.
Zarathustra spricht aber auch von der Gefahr, dass die Menschen den Tod Gottes
weniger als Verpflichtung, denn als Befreiung sehen und ihr ganzes Leben nunmehr auf die eigene Lustbefriedigung lenken. Diese
Befürchtung drückt sich durch die Rede vom letzten Menschen aus, der eine Art hedonistischen Nihilismus personifiziert,
wo alle Religion verloren und nur das profanierte Leben in seiner Armseligkeit zurück-geblieben ist:
Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den
Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren! (...) Wehe! Es kommt die Weit des verächtlichsten
Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann. (...) ‘Wir haben das Glück erfunden’—sagen die letzten
Menschen und blinzeln. (...) Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt dass die Unterhaltung nicht
angreife. (...) Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber
man versöhnt sich bald—sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht:
aber man ehrt die Gesundheit.
Zarathustra glaubt hingegen, dass die Menschheit eine distinktive
Aufgabe hat, welche in der Hervorbringung des Übermenschen liegt: Ein höheres
Wesen, als wir selber sind, zu schaffen ist unser Wesen. Über uns hinaus zu schaffen! Das ist der Trieb der Zeugung, das ist
der Trieb der Tat und des Werks. – Wie alles Wollen einen Zweck voraussetzt, so setzt der Mensch ein Wesen voraus, das
nicht da ist, das aber den Zweck seines Daseins abgibt.
Was Nietzsche nun genau im Übermenschen sieht, bleibt jedoch unbestimmt. Dabei gibt es eine Vielfalt an
Deutungsmöglichkeiten. So glauben die einen, man müsse ihn als heroischen Kämpfer verstehen, der sich aus überreicher Gesundheit
allen Herausforderungen stellt und jede Schwierigkeit überwindet. So glauben wiederum andere, dass Substanzielle des Übermenschen
liege weniger in seine physiologischen Natur, als in seiner psychischen Gesinnung und betrachten ihn als kontemplativen Freigeist,
der sich um immer neue Distanzerweiterung innerhalb seiner eigenen Seele bemüht und auf Grund einer unbeirrbaren Vornehmheit
niemanden nötig hat, außer sich selbst.
Es gibt aber auch Ansätze, die Vorstellung des Übermenschen existenziell-transzendent,
statt metaphysisch definiert zu beschreiben. Insofern wäre er weniger das konkrete Menschsein in seiner höchsten Elaboration,
als einfach das Schaffensprinzip selber, das Über-winden schlechthin, das durch das Über-wesen lediglich personifiziert werden
soll. Dann wäre sein Mangel an Festlegung nicht nur gerechtfertigt, sondern auch Teil des Konzepts und der Übermensch würde
nicht mehr als eine zu-verwirklichende Möglichkeit repräsentieren, eine Offenheit, die bis zum Vollzug offen bleibt
und sogar darüber hinaus, sofern sich jedesmal neue Möglichkeiten der Überwindung auftun. Dabei wird das Nichts der Offenheit
zum Horizont der existentiellen Wirklichkeit, das Nichts wird das Sein, das einem die Hoffnung auf Verwirklichung gibt. Es könnte also eine Art positiver Nihilismus sein, der hier von Nietzsche vertreten
wird, sofern die Angst vor dem Nichts, durch den Willen zum Sein, dem seinerseits nur durch das Nichts Raum verschafft werden
kann, verdrängt wird.
Eine weitere Definition, die uns auch direkt zum nächsten Hauptgedanken führt,
lautet, dass der Übermensch jener Mensch sei, der nicht an der Lehre der ewigen Wiederkehr zerbricht. Was aber macht diese
Wiederkunftslehre so schauerlich und unerträglich, dass der Normalmensch ihrer Verinnerlichung nicht fähig wäre?
In einfacher Darstellung lautet die These: Wenn die Größe des Universums, in Form
von Materie und Energie beschränkt ist, die Zeit aber unendlich, sind alle möglichen Materie- und Energiekonstellationen schon
einmal geschehen und werden darum gemäß des Kausalgesetzes immer wieder geschehen. Nietzsche schreibt: Die Welt der Kräfte
erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. Die Welt der Kräfte
kommt also nie in ein Gleichgewicht, sie hat nie einen Augenblick der Ruhe, ihre Kraft und ihre Bewegung sind gleich groß
für jede Zeit. Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann, sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige
Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genau so vertheilt,
wie jetzt: und ebenso steht es mit dem Augenblick, der diesen gebar und mit dem, welcher das Kind des jetzigen ist. Mensch!
Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen – eine große Minute
Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt wieder zusammenkommen.
Interessant ist nun weniger der wissenschaftliche Aspekt dieser Theorie, dessen
Richtigkeit von Philosophen und Naturwissenschaftlern schon oft genug in Frage gestellt wurde, sondern der existenziell-moralische
Grund, der sich hinter der kosmischen Rechnung verbirgt. Nietzsche will nämlich, dass wir an uns selbst messen, wie die Lehre
auf uns wirkt, wenn wir sie als wahr annehmen. Er selbst geht von einer niederwerfenden Wirkung aus: das Dasein, so wie
es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts . . . Das ist die extremste Form
des Nihilismus: das Nichts (das Sinnlose) ewig!
Nicht umsonst geht das Wörtchen »Im-Kreis-drehen« oft mit der Attribution »sinnlos«
einher. Wir bemühen uns, weiter zu kommen, fortschrittlich zu sein, und wenn wir letztlich nur dort ankommen, wo wir schon
ganz am Anfang waren, sind wir verständlicherweise enttäuscht. Aber auch der Gedanke daran, dass alles was wir tun, durch
die Tatsache dass es schon einmal, schon unendliche Male geschehen ist, auf eine gewisse Weise prädestiniert, vorherbestimmt,
determiniert ist, wird einigen nur schwer bekommen.
Wer es zulässt, dass der Gedanke der ewigen Wiederkehr, bis in sein Innerstes
dringt und sich dort als Wahrheit manifestiert, wird – so Nietzsche – verwandelt aus dieser Erfahrung hervorgehen.
Abgesehen von den Kranken und Lebensmüden, die an der Lehre nur den Verwesungsgeruch des Fatums wittern werden und denen angesichts
ihres bisherigen Lebens noch weniger Lust vergönnt sein wird, dasselbige weiterzuführen, wird sie die Stärkeren, die schon
immer ein positives Verhältnis zu ihrem Leben hatten, noch mehr an dasselbige binden. Denn die Frage bei allem und jedem,
was du erlebst, ob du dies noch einmal und noch unzählige Male erleben willst, würde als das größte Schwergewicht
auf deinem Handeln liegen! Und je nachdem, wie man zu seinem Leben steht, ob man daran hängt oder es nur führt, weil man nicht den Mut aufbringt,
demselbigen ein Ende zu setzen, wird der Gedanke der ewigen Wiederkehr einen zur höchsten, weil für die Ewigkeit geltenden
Bejahung oder zur tiefsten, aus der Vorstellung eines ewigen Leidens entstandenen Verneinung führen. Das meint Nietzsche also,
wenn er seinen Glauben äußert, das Buch des Zarathustra werde die Menschheit in zwei Hälften teilen. Denn während bisher
auch der schwächste Mensch in dem Trostgedanken Zuflucht nehmen konnte, das Leben würde ohnehin bald vorübergehen und er ins
Himmelreich aufsteigen, so wird durch die Lehre radikal auf die Ausschließlichkeit des irdischen Lebens referiert und die
Hoffnung auf ein Jenseits vernichtet. So schreibt Nietzsche: Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies
Leben als ein flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten, denn durch ihn drücken
wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben!
Der Gedanke enthält aber auch die ethisch-moralische Forderung, so (zu) leben,
daß du wünschen mußt, wieder zu leben. Dabei werden keine bestimmten Handlungen, Lebensarten oder Verhaltensweisen vorgeschrieben, sondern nur verlangt, man
solle so handeln, dass man wollen könne, es unendliche Male wieder zu tun. Es wird also nach den individuellen Wünschbarkeiten
gefragt, die der Mensch, durch die Ewigkeit bestärkt, oder besser: gedrängt, verwirklichen würde. Wem das Streben das höchste
Gefühl gibt, der strebe; wem Ruhe das höchste Gefühl gibt, der ruhe; wem Einordnung, Folgen, Gehorsam das höchste Gefühl gibt,
der gehorche. Nur möge er bewußt darüber werden, was ihm das höchste Gefühl gibt, und keine Mittel scheuen! Es gilt die Ewigkeit!
Es gibt noch eine Möglichkeit, den Übermenschen zu definieren, und auch sie hilft
uns bei der Einleitung eines neuen Gedankens. So schreibt der britische Philosoph Michael Tanner: Der Übermensch ist das
Wesen, das bereit ist, zu allem, was ihm begegnet, Ja zu sagen. Diese Bejahung ist aber zweideutig und beinhaltet sowohl
die Bejahung des Glücks, wie auch des Leids, das einem im Leben widerfährt, denn Alle Dinge sind verkettet und sagtet
ihr jemals Ja zu einer Lust (...), so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Die Fatalität des menschlichen Daseins lässt es
nicht zu, dass wir gewisse Aspekte unseres Lebens bejahen und den Rest willentlich verleugnen. Alles hängt durch das Fatum
untrennbar zusammen, und das Eine wäre ohne das Andere nie zustande gekommen. Ein Ja oder Nein kann in diesem Sinne also nur
absolut gegeben werden – alles andere wäre Selbstbetrug, ein idealisierendes Halb- und Falschsehen, ein Augenverschließen
vor dem, was einem das Leben real bedeutet.
Aber dieses Augenverschließen gehört beinahe schon zu den Bedingungen menschlicher
Existenz, zur conditio humana der Moderne. Die Medien, die Kunst, die Weltpolitik, das Fernsehen, die Unterhaltungsindustrie,
das Narkotikum, die Gesellschaft, kurz: das ganze Schauspiel, das sich Leben nennt, hält den apollinischen Traum aufrecht,
in dem wir zufrieden schlummernd unser Dasein fristen. Wie auf einer Hetzjagd laufen wir dem Glück nach, und fast scheint
es so, als hätten wir weniger Lust danach, dieses zu erreichen, als Angst davor, von etwas anderem erreicht zu werden: der
Wirklichkeit.
Übermensch sein bedeutet also auch, das Dionysische, die Wirklichkeit, ohne Abzug
oder Abkehr, ohne Ausflucht in das Reich subjektiver oder intersubjektiver Träume, ohne Rechtfertigung oder Schöndeutung historischer
Wissenschaften oder metaphysischer Religionen zu ertragen, und mehr als das: das Dionysische sogar zu bejahen, sich darin
zu verlieben!
Hier begegnet uns das eigentlich Unmenschliche des übermenschlichen Ideals. Hier
erkennen wir die unüberbrückbare Distanz zwischen unserem Menschsein und dem von Nietzsche ersehnten Übermenschsein. Dies
alles, was uns so sehr in Ekel versetzt, das Absurde, das Eitle, das Sinnlose der Welt, die Grausamkeit, das Ungetüm von Unvernunft
und Ungerechtigkeit, das Fatum heißt und unsere wehrlose Kleinlichkeit in der Faust umschlossen hält, die Vergänglichkeit,
der Tod, der kein Weg zum Jenseits mehr ist, die Zerstörungsgewalt blinder Zufälle – dies alles sollen wir bejahen?
– Unmöglich!
Und doch sehe ich hier den eigentlichen Fokus meiner gesamten Arbeit, den Kulminationspunkt
aller vorhergehenden Gedankengänge, das eigentlich Durchschlägige des Nietzscheanischen Denkens, die Abhebung von allem, was
die Philosophie bisher an Idealen hervorgebracht hat.
Das Schreckliche, Dunkle, Entsetzliche der Wirklichkeit unbeschönigt darzustellen,
haben schon viele in Angriff genommen, wobei man vielleicht mit Recht daran zweifeln darf, ob es einem anderen außer dem deutschen
Pessimisten Arthur Schopenhauer auch gelungen ist. Dieses Schreckliche, Dunkle, Entsetzliche aber umzudeuten, ins Schöne,
Erhabene, Göttliche, und es dadurch erträglich zu machen, ist ein Verdienst, das alleine Nietzsche zugeschrieben werden darf,
diesem heroischen Denker, der im Kampf gegen die traumwandlerischen Ideale, sein eigen Blut nicht geschont hat, um der unverfälschten
Wirklichkeit wieder ihr alt verdientes Recht zukommen zu lassen.
Diese Daseinshaltung, den Schwierigkeiten der dionysischen Anschauung zum Trotz,
das Leben zu bejahen, nenne ich den Tragischen Optimismus. Und ich kenne nichts, worauf der Begriff besser passen würde, als
auf die Lebensphilosophie des genialen Denkers Friedrich Wilhelm Nietzsche.
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