Über die Nächstenliebe (Mai 2004)

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Was ich unter »Nächstenliebe« verstehe, betrifft einen gewissen Hang, alle Menschen als gleich anzusehen, nämlich jeden so zu lieben, wie sich selbst, und das bedeutet ebenfalls, jeden nur in bezug auf sich selbst zu lieben. Tatsächlich gibt es sehr viele solcher Humanisten, also solcher vermeintlicher Nächstenliebender, nämlich erstens diejenigen, welche sich in ihrer Naivität den abstrakten Begriff des Menschen zu ihrem besten Freund machen wollen (als ob es nicht stupide wäre, einem Begriff zugeneigt zu sein), und zweitens diejenigen wesentlich häufigeren, welche sich selbst in den anderen lieben, quasi ihre eigene Spiegelung in den getäuschten Augen ihres Gegenübers bewundern, wobei noch hinzukommt, dass nicht viel Redlichkeit in ihrer Liebe steckt, hingegen ein großes Maß an Schauspielerei.

Ich möchte hier Nietzsche zu meiner Verstärkung einberufen:

"Ihr drängt euch um den Nächsten und habt schöne Worte dafür. Aber ich sage euch: eure Nächstenliebe ist eure schlechte Liebe zu euch selber. Ihr flüchtet zum Nächsten vor euch selber und möchtet euch daraus eine Tugend machen: aber ich durchschaue euer "Selbstloses". [...]
Ihr haltet es mit euch selber nicht aus und liebt euch nicht genug: nun wollt ihr den Nächsten zur Liebe verführen nud euch mit seinem Irrtum vergolden.
Ich wollte, ihr hieltet es nicht aus mit allerlei Nächsten und deren Nachbarn; so müsstet ihr aus euch selber euren Freund und sein überwallendes Herz schaffen.
Ihr ladet euch einen Zeigen ein, wenn ihr von euch gut reden wollt; und wenn ihr ihn verführt habt, gut von euch zu denken, denkt ihr selber gut von euch. [...]"

Aus "Also sprach Zarathustra", Kapitel "Von der Nächstenliebe"

Nun, worauf ich eigentlich hinaus will: Es gibt eine verwirklichte Form der Nächstenliebe, und zwar ist jene tatsächlich genau so beschaffen, wie sie vom Christentum verlangt wird, nämlich eine solche, welche keinen Unterschied macht unter den Nächsten, welche überall liebt, wo es vom Gebot verlangt wird. Eine solche Liebe kann aber gerade deswegen schon einmal nichts wert sein, im Auge des Geliebt-Werdenden, denn was soll ich davon halten, wenn ich nur durch ein Gebot geliebt werde, welches dem Liebenden vorschreibt, JEDEN zu lieben? Bedeutet Liebe nicht eben einen Unterschied zu machen? Die christliche Nächstenliebe verliert in Folge so viel an positiver Konnotation, so viel an essenzieller Werthaftigkeit - alleine durch ihre Unredlichkeit und ihre permanente Rückbezüglichkeit auf den Liebenden - , dass schlussendlich nichts Gutes in ihr bleibt, als eine gewisse "Nächstentoleranz" (weniger euphemistisch, dafür ehrlicher), welche man aber doch gleich als Gebot formulieren könnte, anstatt eine solch unmögliche Forderung zu stellen, wie jene, dass man alle Menschen, ohnerachtet ihres Charakters und Verhaltens, lieben solle, ein Gebot also, welches in gewissen Fällen so sehr wider die Natur sein dürfte, wie eines, das mir vorschreiben würde, meine eigenen Kinder zu hassen. Außerdem liegt es der menschlichen Seele deswegen nicht, derartiges gewährleisten zu können, da doch Liebe zuvörderst eine Kombination aus Vertrauen und Begierde darstellt, und weder kann ich einem Fremden einfach so vertrauen - auf gut Glück hoffen, dass er die selben Regeln befolgt, wie ich - noch kann ich an ihm, den ich noch nicht genauer kenne, mehr begehren, als nur seine Oberfläche, und selbst diese wohl nicht bei jedem Individuum.

Dass also die Menschheit sich krumm biegen musste, bei solch unmöglich durchführbaren Idealen, ist noch weniger verwunderlich, als die Tatsache, dass sie sich dabei üblerweise zur Gewohnheit machte, ihr Umfeld über ihr wahres Empfinden hinwegzutäuschen, vielleicht aus Scham vor der eigenen Lieblosigkeit, und stets dort unredlich zu sein, wo sie begann, gesellschaftlich, leutselig, "nächstenliebend" zu werden.

 

Auch ich wäre sehr angetan, würde ich eine solche Nächstenliebe unter den Menschen beobachten dürfen, doch was mich bereits an der Nächstenliebe an-sich zweifeln lässt, ist die Unmöglichkeit ihres reinen und redlichen Auftretens, was sie so dann in meinen Augen auf einen utopischen Begriff reduzieren lässt (Zur Erklärung: Nächstenliebe ist für mich nicht wählerische Liebe, wie diejenige eines Freundes zu seinem Freund, sondern allgemeine, alle Menschen erfassende Liebe). Ich will also nicht nur den heuchlerischen Aspekt dieses Verhaltens anklagen, denn das würde bedeuten, dass es manchen gelingen würde, sie wahrlich zu praktizieren, oder dass zumindest die Möglichkeit bestünde, es zu tun, sondern betrachte schon alleine die Forderung der Nächstenliebe als unmöglich befolgbares Gebot, schon alleine weil Liebe kein Gebot sein kann, sodass dabei alleine Falschheit und Heuchelei aus dem Menschen zu Tage gefördert wird, da es eben nicht möglich ist, über Freiheit - und nichts anderes als Freiheit ist die Liebe - zu gebieten. Wie so vieles in dieser Wohlfühl-Religion des Christentums scheint die Thematik der Nächstenliebe eine nützliche Art und Weise zu sein, die Gesellschaft sowohl zusammenzuhalten (obgleich dieser Zusammenhalt alleine auf der Oberfläche gefunden wird), als auch das Individuum in dem Glauben zu bestärken, es selbst handle moralisch richtig, was wiederum seine Eigenliebe bestätigt.

 

Eine solche Liebe ist wahrhaft christlich, wahrhaft bedingungslos, kurz: wahrhaft schwachsinnig, denn eine Liebe ohne Bedingung kann keine Liebe sein. Wenn diese Nächstenliebe aber eine Bedingung besitzt, die sie zu einer Liebe machen könnte, so liegt sie alleine im Verhältnis des Liebenden zu sich selbst, in seiner Ich-Reflexion nämlich, in seiner Selbstbeobachtung, durch welche er sich an seiner vermeintlich großen Liebenswürdigkeit ergötzt. Und so gleich tauft er es "Nächstenliebe", wobei er sich doch nur in einen Begriff, in ein Ideal, ja im Grunde genommen in die Nächstenliebe selbst verliebt hat, denn wie in Teufels Namen (pardon!) soll man alle Menschen, ja alle Wesen dieses Universums lieben können, wenn man doch schon so ein beschränktes Wesen ist, das man bereits dem Nachbarn nicht verzeihen kann, wenn er einmal die Musik zu laut laufen lässt, oder gar dem Schulkameraden, wenn er eine bessere Note gebracht hat, wie könnte jemals ein Mensch so viel Vertrauen und so viel Begierde aufbringen können, dass jene aufgeteilt auf alle Lebewesen noch genug übrig lassen würde, um eine wahrhaftige, eine redliche Liebe zu gewährleisten?

Also nochmal: Nächstenliebe wäre schon etwas Feines, alleine wenn sie nur so möglich ist, dass man anderen eine Bedeutung vortäuscht, die im Liebenden gar nicht wahrgenommen wird, so ist sie etwas Falsches und Unredliches, und kann deshalb nicht gutgeheißen werden (wenigstens nicht in der Philosophie). Sollte aber umgekehrt eine Nächstenliebe möglich sein, die sich nicht auf Begriffe, nicht auf Ideale und nicht auf das eigene Ich beschränkt, sondern tatsächlich auf die Gesamtheit aller Menschen im Besonderen ausrichtet - und im Besonderen bedeutet, dass jeder für sich und seine Besonderheit, eben für seinen Unterschied, und nicht für seine Gleichheit geliebt wird - so bitte zeigt mir, wie ein solches Wunder in einem so verdorbenen Wesen, wie dem unsrigen, stattfinden kann.

(c) by Philemon