Von der zeitgenössischen Gesellschaft (September 2004)

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Man legt heutzutage so viel Wert auf die Meinungen anderer, dass man sich nicht wundern darf, wenn man dabei zusehen muss, wie sein gesamtes Wesen von der Willkürlichkeit und Laune seiner Mitmenschen in tausend Abhängigkeiten zerrissen wird, also von einer oft zufälligen Oberflächlichkeit beherrscht wird, die in Wahrheit nichts über tatsächliche Wertschätzungen auszusagen vermag. Dabei sind diese Mitmenschen selber in jene unglückselige Verknüpfung eingeflechtet, was sie sogar dazu verleitet, mit der Heuchelei ihrem eigenen Ziele, nämlich selbst geschätzt zu werden, näherzukommen, was nicht selten zu dem Auftreten einer verachtungswürdigen Koketterie führt, in der sich der eine zur Aufgabe, ja zur Gewohnheit gemacht hat, den anderen zu täuschen und sich selbst dabei vorzukommen, als wäre er der einzige, der sich in den anderen nicht täuscht, was natürlich ein fataler Fehlschluß ist.

So gibt es im Endeffekt viel mehr Menschen, die begehrt werden wollen, als solche die tatsächlich noch in der Lage sind, zu begehren, und wenn der Schleier der Täuschung wieder einmal herniederfällt, wenn die Komödie erneut seinen Auftritt feiert, wo die eine Rolle empört ist, das sie betrogen wurde, die andere verwundert, das sie betrogen hat, wenn sich die Gesellschaft wieder einmal als das entblößt, was sie ist, als holpriges Lügenwerk, wo jeder sich etwas auf sich selbst einbildet, ohne aber irgendetwas anderes zu sein, als der bloße Spiegel menschlicher Eitelkeit, - ja, wo sich Dutzende solcher Spiegel gegenüber stehen und nichts anderes spiegeln als Luft, Luft und wieder nur Luft, weil jeder zu feige ist, einmal auch mit Erde zu werfen, - da wird einem bewusst, wie verdorben und schwach der Mensch doch ist, dass er sich aus reiner Bequemlichkeit lieber der Erscheinung anderer, als der Tiefe seinerselbst anvertraut, die viel beständigere und bedeutungsträchtigere Werte für ihn offenbaren würde, als es die dumpfe Gesellschaft vermag.

Nein, es steht schlimm um eine Menschheit, die verlernt hat sich selbst zu lieben und die auf die Verlogenheit der anderen angewiesen ist, welche es genauso wenig vermögen. Weil jeder an sich selbst so wenig hat, flüchtet man sich in die Wertschätzung anderer, die aber, aus eben demselben Mangel, auch nichts für einen übrig haben. In Wirklichkeit ist Liebe und Begehrlichkeit nichts anderes als die dankbare Reaktion auf ein erfülltes Leben. Die moderne Gesellschaft verwechselt aber Ursache und Wirkung und verlangt jene Liebe und Anerkennung, oder, was weitaus häufiger ist: die Vortäuschung von Liebe und Anerkennung, um sich erfüllt zu fühlen.

Nein, seid mal ehrlich, ihr Philosophen: gibt es etwas Verdrehteres, etwas Krankhafteres als unsere, als die zeitgenössische Gesellschaft?

(c) by Philemon