An die heutigen Moralprediger (Juli 2004)

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Hallo Moralprediger, hallo Nächstenliebende, hallo Kurzsichtigkeit, hallo Zeitgeist



Ich will es kurz machen, will nur das aller Nötigste sagen (und nötig ist es allemal), statt überflüssig Zeit und Wort an treuherzige (nämlich mit Herzen der Vergangenheit treuer) Moralisten zu verschwenden, die ihrem religiösen, ihrem traditionellen Gewissen mehr Glauben schenken, als ihrem Intellekt, die ganz unschuldig-blauäugig, ganz blauäugig-lügnerisch, ganz selbst-und-andere-betrügerisch, ihre Predigten vom vergammelten Katheder herunterlesen, um den Menschen ein schlechtes Gewissen zu machen, während sich diese rachsüchtigen, aber naiven Lehrmeister wahrscheinlich gar noch in diesem Akte der verhüllten Unredlichkeit, Feigheit und Faulheit als sehr moralisch empfinden, und meinen über allen Egoismus erhaben zu sein - Nochmal also: Ich will es kurz machen, denn es gibt doch eurer auch weit zu viele, als dass es irgendeinen Sinn hätte, einzelne Sandkörner am Strand darüber zu belehren, dass sie nur Sandkörner sind, während daneben noch so erschreckend viele vom allzumenschlichen Irrtum überzeugt sind, moralische Goldklümpchen zu sein. Ich erlaube mir die ungeziehmte und sicherlich empörende Immoralität, euch aus reiner Boshaftigkeit, aus reinem Machtgelüst, aus bloßer und euch bloß legender Ehrlichkeit mit meiner eigenen Moral zu konfrontieren, die euch in der Tat boshaft erscheinen wird, da sie euch so unbekannt, so unwesentlich, so uninteressant, weil nämlich so unerhebend, unselig und unnütz, ja dem ein oder anderen von euch sogar schädlich erscheinen wird: Ich nenne sie die Moral der Redlichkeit, die Moral, welche als GUT nur dasjenige ansieht, was ohne besseres Wissen und Gewissen gesagt und getan wird, wobei es von Entscheid ist, dabei auch keine Möglichkeit auf ein besseres Wissen und Gewissen auszulassen, - hingegen als BÖSE, was gesagt und getan wird, obwohl man weiß, dass man hierdurch etwas ins falsche Licht rückt, sich selber, ein Erlebnis oder eine Tatsache mit Absicht verfälscht und der Wirklichkeit zu Gunsten eines schöneren Scheins entfremdet, außerdem die Bequemlichkeit des Geistes, die bewusste Naivität, die philisterhafte Unselbständigkeit des Denkens, die religiöse und metaphysische Fantasterei, die Flucht ins Gewohnte, ins Lügnerische, ins Illusionäre, ins Gedankenlose, ins leidenschaftlich Dumme, ins pathetisch Schauspielerische, so dann alle Arten dem eigenen Selbst auszuweichen, dem eigenen Kopf langfristig zu entrücken, sich einem Rausch der Selbstbetrügerei hinzugeben, sich die Welt zu erdichten und zu erträumen, zu glauben, ohne an seinem Glauben auch nur einmal zu zweifeln, kurz: steckenzubleiben, zurückzubleiben, vergesslich zu werden, überall wenigstens ein Auge zuzudrücken, aus Furcht sich überall unterzuordnen, alles nachzuahmen, um JA nicht schlecht aufzufallen, um sich JA nicht selbst in Gefahr oder in Verruf zu bringen, um sich JA mit keiner herrschenden Ordnung, und möge sie nur Tradition oder Sitte sein, anzulegen, stattdessen lieber dem Aberglauben zu verfallen, der Liebe zum Gewohnten, zur Sicherheit, zur Althergebrachtheit (es ist so leicht, sich alles Moralische von den Alten bringen zu lassen: man muss es sich dann nicht selbst holen), der Neigung zur Vergangenheits-Vergesslichkeit, zur Gegenwarts-Blindheit, zur Zukunfts-Träumerei... - Ja, in der Tat, es gibt viel BÖSES auf der Welt, wenn man sie aus dem Gesichtspunkt der Moral der Redlichkeit betrachet, deshalb ist sie keine leicht zu handhabende, ja, wenn man es ganz ernst mit ihr nimmt, eine unmöglich jemals zu erfüllende Moral; aber ihr müsst sie ja auch nicht annehmen, ich bin ja nicht so dreist, wie ihr, mich hier hinzustellen, und von einem absoluten GUT und einem absoluten BÖSE zu sprechen, was ihr nämlich unverweigerlich tut, indem ihr durch eine bloße Definition der Begriffe abgeklärt haben wollt, was den ganzen Ethos der Menschheit ausmachen soll. Was euer größtes Problem ist (oder nein: Probleme kennt ihr ja nicht, es ist eher MEIN Problem mit euch): Ihr nehmt ganz gewöhnliche, längst zur menschlichen Gewohnheit gewordene, weil Ewigkeiten schon in Entwicklung seiende Verhaltensweisen ins Auge und deutet sie dann ins Moralische, ins Zweckmäßige, ins Sinnvolle um. Ihr begeht den Fehler ein so langwieriges Werden wie das der menschlichen Affektentladungen (sprich: Handlungen) mit so kurzsichtigen, lediglich dem (demokratischen/kommunistischen) Zeitgeist entsprechenden Begründungen zu beladen, die keinerlei Zusammenhang mit diesen aufweisen, weil die Verhaltensweisen evolutionär-physiologisch, die moralischen Ideen jedoch kultur-historisch verankert sind, eine Symbiose zwischen den beiden Gattungen aber Unsinn und Unmöglichkeit ist. Ihr wollt außerdem an der positiven Wirkung ansetzen, die den Verhaltensweisen eigentlich gar nicht wesentlich sind, anstatt die Ursachen zu durchleuchten, also die wahren Motive einer jeden Handlung ins Licht der Betrachtung zu erheben, die ganz und gar nicht unegoistisch sind, ganz gleich, ob Pflicht oder Neigung, Imperativ oder Liebe dahinterstecken mögen.
Aber, nun wie gesagt: Es ist Geschmacksache, Moral war schon immer nur Geschmacksache und es hilft nicht, dass ihr es nicht wahr haben wollt, es schadet viel eher, wenn nicht euch, dann allen Möglichkeiten einer neueren, einer stärkeren Moral, denn ihr wollt den Menschen auf ein bestimmtes Gut und Böse festnageln, wollt ihn an den Mast eines sinkenden Schiffes fesseln (und jedes Schiff, jede Moral versinkt schließlich im Meer der Zeit), wollt ihn schwer und demütig machen, mit bösem Gewissen und Vorwürfen belasten, wollt ihn verkränklichen, verunselbständigen, verdemokratisieren, bis er tatsächlich so weit ist und eure Moral wirklich braucht, das Mitleid wirklich braucht, die Masse der Anderen wirklich braucht, bis er schlussendlich in dieser Masse untergehen und nur noch in dieser Masse aufgehen wird können, bis es letztlich auch keine Menschen, keine Individuen, sondern nur noch DIE Menschheit geben wird, DEN Organismus Mensch, DIE Krankheit Mensch, DIE Maschine Mensch, mit seinen endlos vielen, winzigen Zahnrädchen, unter denen eines ersetzbarer, eines unwichtiger, eines blödsinniger als das andere ist, bis schließlich alles sich assimiliert haben wird, alles nivelliert worden ist, alles auf die Stufe der Dümmsten und Stumpfsinnigsten gebracht worden ist, die man nicht erheben kann, sondern auf deren Niveau man sich herabbegeben muss, um eure Gleichheit, eure illusionäre, idealistische Gleichheit zu erreichen. – NEIN, all das DARF nicht geschehen. Es wäre viel zu schade um all die Schönheiten, welche die Selbstsucht, der Schmerz, der Überdruss, die Welt- und Menschentfremdung uns seit Gedenken erbracht haben, oder woher glaubt ihr stammen die tiefsten Philosophien, die erhebendsten Musikstücke, die eminentesten, gedankenvollsten, sublimsten Künste? – Entstammen sie vielleicht irgendeiner zeitbedingten Idee des Guten, wie in eurem Fall, dem Gemeinschaftssinne, der Heerdentier-Moral, dem Nützlichkeitsgedanken, dem Willen zum Glück? – Pah! Gründlichster Irrtum! Es war eben der Ehrgeiz, der teuflische Ehrgeiz, der Wille zur Macht, das Streben, andere zu überbieten, zu beschämen, mit Neid und Bewunderung zu beschämen, es war der Trieb zur absoluten Individuation, zur Einzigartigkeit, zur eigenen Bedeutungsträchtigkeit, zur Abhebung über die Masse – All das suchten, all das wollten die wahren Künstler und wir sind ihnen für ihre Taten und Werke dankbar, und wollen ihnen ob ihrer Motive nicht gram sein, für die sie ja doch nichts können, weil diese doch in ihrer Tierheit verankert sind und weniger in ihrer Vernunft oder dem, was wir gewöhnlich unter Vernunft verstehen wollen.
Aber wo war ich? Bin ich nicht ganz vom Weg abgekommen? Wollte ich mich nicht kurz fassen? Nun also mit latenter Bestimmtheit:
Es gibt keine absolute Moral, keine ewige Moral, keine Verpflichtung, der Gesellschaft, irgendeiner Gesellschaft zu gehorchen. Auch gibt es kein Gut und Böse, ehe nicht der Mensch sich das Gut und Böse aus dem Nichts erschaffen hat, keine Werte, ehe nicht der Mensch festgelegt hat, was wert und was unwert ist, keinen Sinn und Zweck, ehe nicht der Mensch sich Sinn und Zweck gebildet, eingebildet hat. Nicht aber alleine die Tatsache, dass der Mensch fehlbar ist, soll uns gegenüber der weitverbreiteten Moral der Nächstenliebe skeptisch machen, sondern auch die Unterschiede, die ärgsten Unterschiede zwischen den Menschen, in physiologischer Veranlagung ebenso wie in der Art der Perspektive, sollten zur Genüge belegen können, dass das Postulat einer einzigen Moral, die jeden glücklich machen soll, völlig unsinnig sein muss und im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist.

Bleibt also nur zu sagen: Diejenigen, welche die Moral des Gemeinwohles und des kleinsten gemeinsamen Nenners bejahen und befolgen wollen, sollen dies ruhig tun, denn sie haben Schutz und Sicherheit der dumpfen Masse wohl so bitter nötig, dass es rücksichtslos und grausam wäre, sie in die Einsamkeit zu schicken (sie würden an ihrer eigenen Langeweile und Grobheit zu Grunde gehen). Alleine, sie sollen gefälligst nicht versuchen, anderen Menschen, welche diese Art der Absicherung und ausgleichenden Gerechtigkeit nicht wollen, vor allem nicht brauchen und dabei nur Verluste einstreichen würden, ein schlechtes Gewissen zu machen, indem sie die falsche Behauptung aufstellen, ihre Weise, die Dinge zu sehen, sei die einzig richtige, die einzig moralische, die einzig menschenwürdige.

 

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Euch fehlte schon immer der Blick hinter die Kulissen der Moral, hinter die Wertschätzungen von Gut und Böse, dessen Wagnis aber dringend notwendig wäre, um über die Moral zu diskutieren (Um das Moralische zu durchleuchten, muss man leider außermoralisch reflektieren. Gerade das erscheint euch aber unmöglich). Gleichsam konntet ihr noch nie den Mut aufbringen, einmal jenseits von aller Menschlichkeit zu prüfen, was Ethik eigentlich bedeutet. Eure Aufgabe ist es, die althergebrachte Moral im Gedächtnis der Menschheit zu verankern, ihr seid nicht dazu geeignet, über die Werte zu reflektieren, geschweige denn neue zu erschaffen, um unsere Gattung in neue Bahnen zu lenken. Vor allem aber wollt ihr es gar nicht, denn ihr habt Angst vor Veränderung, vor Innovation, vor Revolution, ohnerachtet der Tatsache, dass auch am Beginn der Demokratisierung Europas eine Revolution (noch dazu eine recht gewalttätige) stehen musste, die euch, hättet ihr damals gelebt, sicher auch mißfallen wäre, da es eben in eurer Mentalität liegt, zu Allem, was ihr an Gewohnheit und Sitte in euch selbst findet, Ja und Amen zu sagen, anstatt endlich zu erkennen, dass eure Moral, so wie jede Moral, keine absolute darstellt, dass auch euer Gewissen nicht die richtigen Wertschätzungen beinhaltet, dass auch die Dichter und Moralphilosophen, die Lehrmeister der Vergangenheit, nichts von dem wahren Gut und Böse wissen können, weil es eben kein WAHRES Gut und Böse gibt, sondern nur eine bestimmte Art der Gewohnheit, sein Leben zu führen und die Dinge zu betrachten.

 

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Nur soviel: Keine Handlung, keine Lebensphilosophie, keine Askese, kein religiöser Fanatismus, keine Prinzipientreue, kein kategorischer Imperativ, keine Nächstenliebe, kein Christentum, kein Buddhismus, kein Mitleid, keine Mitfreude, kein Mitgefühl, kein Märtyrertum, keine Selbstaufopferung, keine Selbstverleugnung, keine Demut, ja noch nicht einmal die hingebungsvollste Liebe ist ihrem Wesen und Motive nach unegoistisch. Nur, dass bei der ein oder anderen menschlichen Tätigkeit, der Egoismus nicht sofort ins Auge sticht, heißt noch lange nicht, dass dieser dort nicht vorhanden wäre. Auch das scheinbare Übergewicht am Nutzen für andere, schließt noch lange nicht aus, dass wir selbst unser Interesse daran hätten. Zumeist ist es die Furcht vor der Vergeltung, welche uns davon abhält, "Schlechtes" zu tun, und die Hoffnung auf Belohnung, welche uns dazu bringt, "Gutes" zu tun, wo steckt hier also das absolute Desinteresse, das für die Selbstlosigkeit von so eminenter Wichtigkeit ist? Zu verlangen, dass jemand in seinen Taten unegoistisch und selbstlos handeln soll, hieße zu behaupten, dass es möglich ist, etwas zu tun, ohne ein Motiv, ein Interesse, das dahinter steckt. Diese Behauptung ist aber nicht nur völlig unsinnig und bar jeglichen realistischen Gehalts, sondern auch eine zutiefst amoralische (im Sinne der Redlichkeit: amoralische) Anmaßung, indem hier andere mit einer fälschlichen Predigt der möglichen Selbstlosigkeit daran gehindert werden, sich selbst und ihre wahren Motive zu erkennen. Was man außerdem wissen sollte: Die Moralisten des Gemeinschaftssinnes sind oftmals, natürlich ohne es zu wissen, die größten Egoisten, da sie mit der Heraufzüchtung demütiger und unterwerfungssüchtiger Menschen, auch die Gefahr eindämmen, selbst einer "Ungerechtigkeit" der anderen zum Opfer zu fallen. Aus Furcht wollen sie die Menschen all ihres persönlichen Interesses berauben - und das soll nicht egoistisch sein?
Aber was heißt das denn nun, was will ich denn eigentlich damit sagen: Etwa dass die Menschen allesamt schlecht sind, weil sie allesamt egoistisch sind? - Unsinn! Eben hier liegt der größte Irrtum, denn der Egoismus ist allzu natürlich, allzu notwendig um schlecht zu sein. Es waren immerzu nur bestimmte Religionen und demokratische Moralphilosophen, die den Egoismus für schlecht gehalten haben, im alten Griechenland beispielsweise galt der Ehrgeiz und die Selbstsucht als ein Zeichen von Vornehmheit, während das Mitleid etwas war, für das man sich geschämt hat. Alles nur Ansichtssache! Es wird auch noch die Zeit kommen, wo die Moral der Nächstenliebe ihr Ende findet, und wer weiß, vielleicht kommt es dann endlich zur großen Ehrlichkeit, zur großen Redlichkeit, die so viele mir verwandte Geister anstreben und die der gefährlichen Verweichlichung und Verkränklichung der Menschheit entgegen wirken soll. Ich hoffe es aufjedenfall: Nur heute und morgen wird es dafür wohl noch zu früh sein. Es ist die Weisheit für Übermorgen.

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