12.Oktober 2004
Ich habe nun sehr lange nicht mehr an meiner „Tragödie“ weiter geschrieben.
Im Grunde ist das ein sehr gutes Zeichen, da ich immer nur dann das Bedürfnis habe, zu schreiben, wenn ich keine wirkliche
Lust mehr habe, zu leben oder das Leben, wie es sich mir anbietet, auszukosten. Heute ist wohl wieder so ein Tag, an dem ich
lieber gar nicht erst aufgestanden wäre. Aber würde ich jetzt einfach damit fortfahren, zu erzählen, was mir tagtäglich so
passiert, welche Gedanken mich ereilen, welche Dinge mir widerfahren, so würde der Leser darüber hinweggetäuscht werden, dass
er es nicht mehr mit demselben Protagonisten zu tun hat, wie zuvor. Er würde nicht begreifen können, dass ich ein anderer
geworden bin, ein lebenswacherer Mensch, ein lebensmutigerer vor allem, der in seinem Dasein nicht mehr, einen einzigen
Irrtum, ein Absurdum par excellence, ein grobes Mißgeschick der Natur, sondern, nein, im Gegenteil, eine Chance, eine
Aufgabe, sogar eine Pflicht sieht. – Diese Pflicht aber, die sich Leben nennt, diese Pflicht hat mir weder ein kategorischer
Imperativ, eine Moral oder eine Religion auferlegt, noch habe ich mir was bei Staat oder Gesellschaft zu Schulden kommen lassen
– Nein, alleine ich selbst bin derjenige, der sich diese Pflicht aufgebürdet hat, alleine ich selbst bin
derjenige, dem ich so viel schulde, dem ich so viel genommen habe, an Glück, an einfachem, einfältigem Glück, genauso
wie an den selbstverständlichsten Erfahrungen, Erfahrungen mit der Wirklichkeit, Erfahrungen mit den Menschen, Erfahrungen
mit allem, was mich umgibt. In dieser selbstgehässigen, naiv-romantischen, pessimistischen Lebensverachtung, in dieser gewillten
Isolation vor der Sozietät, in dieser Abschottung der Gefühle und Leidenschaften, in dieser Flucht in die Begrifflichkeiten,
in diese losen, hohlen, diese lügnerischen Worte, in dieser vergeblichen, dieser dümmlichen, fast infantil anmutenden Suche
nach der Wahrheit – nein, wie hätte ich in all dem mir nicht schaden können, wie hätte ich in all dem nicht
etwas verlieren müssen, etwas von meiner Menschlichkeit, von meiner Natürlichkeit, von meiner Stärke. Ich bin mir selbst am
meisten schuldig, - das habe ich nun begriffen. Und ich erschaudere fast, wenn ich daran denke, wieviel noch zu tun ist, damit
ich wieder Mensch werde, damit ich wieder voll und ganz auf irdischen Füßen stehe, damit ich überhaupt wieder
lerne, was es heißt, zu begehren, zu lieben, auch: zu dichten – denn nur als Gedicht, nur als ästhetisches
Werk ist das Dasein gerechtfertigt – alleine die Schönheit kann uns von dem Gedanken an die Sinnlosigkeit und Absurdität
unserer Existenz ablenken, alleine die Schönheit kann die Wahrheit über die Zweck- und Hoffnungslosigkeit unseres Wesens erträglich
machen. Wer nun in Gedanken anmerkt, diese Weisheit klinge viel zu wenig nach Schopenhauer, als dass ich selbst mich darin
ernst nehmen könne, der weiß noch nicht, dass ich meine Jüngerschaft verlegt habe, dass ich diesen ehrenwerten Pessimisten
zwar nach wie vor sehr schätze, ihn aber nicht mehr ganz so ernst, ganz so allwissend nehme, wie ich das früher getan
habe. Mein neuer Lehensherr ist Friedrich Nietzsche, dieser waghalsige, dieser heroische Genius, über den ich gar nicht genug
Worte verschenken könnte, ihn würdig zu beschreiben. Er war es auch, der es geschafft hat, die schwarze Galle in meinen Herzen
zu vermindern, mich gegenüber dem Leben wieder dankbar zu stimmen, meiner geistigen Selbstverstümmelung Einhalt zu gebieten
und mit diesem krankhaften, begriffsweihenden Idealismus aufzuhören. Aber nach einem Schopenhauer ist tatsächlich ein Wunder
nötig, um wieder gesund zu werden – Nietzsche ist dieses Wunder und jeden, der davon nichts wissen will,
heiße ich einen Blinden.
Bereits im letzten Eintrag des ersten Teiles meiner Tragödie, es war der 1.Juni.2004, wurde
ich langsam von dem Gefühl beschlichen, „dass meine Verzweiflung
an der Welt nicht echt, sondern fingiert sein könnte“ – langsam und allmählich begriff ich also, das ich die ganze
Zeit auf einem Holzweg gewesen sein dürfte, der mich nur in das bloße Nichts, in die trostlose Dunkelheit des nackten Nihilismus
geführt hätte, wäre ich ihn zu Ende gegangen. Ein einschneidendes Erlebnis, das mit deutlicher Wirksamkeit meine Geisteswandlung
gegenüber Welt und Gesellschaft gefördert hat, war der Aufenthalt in Fürstenfeld, in der Steiermark, den ich dort mit meinen
Schulfreunden verbrachte. Abgesehen von gelegentlichen Rauschexzessen, die ich nicht weiter erörtern möchte, habe ich auch
sehr viel gelesen oder mich einfach kontemplativ mit mir selbst beschäftigt. Dazu stelle man sich die ländliche Szenerie bildlich
vor Augen: Ein dreistöckiges Haus, mit kleinem Goldfischteich und riesigem Garten, der vor dem Haus etwas schräg nach unten
in ein kleines Waldstück verläuft, vom Balkon eine nette Aussicht auf das gegenüberliegende Hügelland, fremde Häuser sind
zwar in der Nähe, aber werden von den Bäumen verdeckt, die Tage sind sonnig, wolkenlos, freundlich heiter, die Nächte ungestört,
sternenklar, angenehm ruhig, es riecht nach Sommer und Gras, die Luft ist sauber und unverbraucht, was einem sowohl die körperliche
als auch die geistige Arbeit entschieden erleichtert. In einer derartigen Landschaft also schien sich etwas in mir zu regen,
ein Wandel kündigte sich an, dessen Vollzug ich schon seit Langem erwartete. Tatsächlich waren die geistigen Voraussetzungen
dieser Verwandlung schon längst vorhanden, tatsächlich befand sich in mir bereits alles Nötige, um das obsolete Weltbild von
seinem Trone zu stürzen, tatsächlich auch war Schopenhauer in meiner Geisteswelt schon längst als übertriebener Pessimist
und metaphysischer Fanatiker verrufen und als philosophischer Wegbegleiter suspendiert. Dennoch: Selbst wenn man eine Weisheit
mental bereits begriffen hat, dauert es immer eine Weile bis man die Weisheit auch wieder sinnlich entfalten kann, bis diese
sich auch im Charakter, im Willen manifestiert hat, im Gewissen verankert wurde, bis diese Weisheit etwas Ursprüngliches,
etwas Bedingendes und nicht bloß etwas Angenommenes und Bedingtes darstellt. Zu dieser Entfaltung brachte ich sie aber erst,
als ich mit einem gewissen Stephan K., einem meiner Klassenkollegen, der sich ebenfalls leicht für die Philosophie begeistern
ließ, einen kleinen Diskurs über den Menschen begann. Es dauerte nicht lange, da geriet mein Freund in Verzweiflung darüber,
wie aussichtslos, wie eitel doch all unser Streben ist, wie wenig wir wissen, wie schwerlich wir in der Lage dazu sind, irgendetwas
distinktiv zu erkennen und schließlich: - wie weit wir von jeglicher Wahrheit entfernt sind, und er setzte sich ins Gras und
ließ den Kopf schwermütig hängen, ehe er ab und zu einige jammervolle Flüche fahren ließ.
Wie gut konnte ich ihn verstehen, in diesem Moment, wie lange musste ich dieselben Qualen durchstehen, wie tiefe Schnitte
hatte die Desillusion über alle fehlende Gewissheit in meiner Seele hinterlassen, um nie wieder vollständig zu verheilen.
Doch in jenem Augenblick, wo er wie ein hilfloses Häufchen vor mir lag und mich allmählich Schuldgefühle ereilten, da ich
nun vielleicht seine gesamte Ferienwoche ruiniert haben könnte, da wuchs in mir gleichsam ein unglaublicher Mut, eine Art
heroischen Vorgefühls, ein rigoroser Glaube an mich selbst und ich erinnerte mich an die Worte Nietzsche’s, an die vielen
Bücher, die ich bis dorthin gelesen hatte, an die vielen Weisheiten die ich verinnerlicht zu haben glaubte. Und dann begann
ich, so zu sprechen, wie ich es mir auch von Nietzsche selbst hätte vorstellen können, begann, mit strenger, rechtschaffener
Stimme auf den Armen einzureden, und ich glaube, eben dass meine Worte weniger tröstlich, als belehrend klangen, eben dass
meine Worte nicht mit sanftmütiger Einfühlsamkeit, sondern mit nahezu zornentblößter Entschlossenheit auf ihn eindrangen,
schien ihn langsam dazu zu bringen, sich wieder auf sich selbst zu besinnen und die Beherrschung über seine Gefühle zurück
zu erlangen. Was ich sagte, klang aber ungefähr so: „Ich verstehe dich nur allzu gut. Ich musste dasselbe durchmachen.
Jetzt aber gilt es, dich zu überwinden, die Erkenntnis über all die Schlechtigkeit, über all die Hinfälligkeit deines Lebens,
unseres Lebens zu verinnerlichen, um dann stärker daraus hervorzugehen. Dass du enttäuscht bist, ist allzu verständlich.
Aber hier darf es nicht enden, hier wird es nicht enden – hier beginnt es erst, dein wirkliches, dein wirkendes
Leben! Du musst versuchen, dich der neuen Erkenntnisse zu bemächtigen, sie dir unterzuordnen, denn was jetzt nocht zählt,
das ist nicht die Wahrheit, nicht die Moral, nicht die Religion, das sind auch nicht deine Hoffnungen oder deine Sehnsüchte,
sondern was einzig und alleine zählt, das ist deine Macht, deine Stärke, dein höchstes Glück, dein Selbst, dein Eigenstes
und Eigentlichstes – und genau diese deine Wesentlichkeit wirst du vernichtet haben, wenn du den Glauben an dich selbst
verlierst. Also jammere nicht, wie ein Weib! Richte dich auf und gehe das Leben von Neuem an, mit frischem Mut und einem stärkeren
Bewusstsein – denn kein Bewusstsein ist stark, das nicht auch seine Schwächen kennt. Erst wenn du die Enttäuschungen,
die dich heute quälen, unter dir, weit unter dir wieder findest, wirst du begreifen, wie notwendig es war, von ihnen
befallen worden zu sein, wie notwendig es auch ist, immer wieder den Widerstand anzustreben, vor allem: deine geistigen Widerstände,
sie niederzurreißen, wie Mauern einer Stadt, die keinen Ausgang zu haben scheint, sich der Freiheit zu bemächtigen, denn
geben kann sie dir niemand. Merke dir: was du nicht kennst, kannst du nicht verinnerlichen – und was du nicht verinnerlichst,
dessen kannst du dich nicht bemächtigen. Verstehst du nun, wie glücklich du sein solltest, wie überglücklich und dankbar
du sein müsstest, für jede Enttäuschung, unter der du leidest?“ – So oder so ähnlich sprach ich also auf ihn ein.
Aber trotz meiner Bemühungen brauchte es wohl Wochen bis er sich wieder restlos erholte und leider bin ich mir ziemlich sicher,
dass nur Verdrängung oder Vergessen des Besprochenen es ihm erlaubte, wieder zur Normalität des Alltags zurückzukehren. War
also alles umsonst? – Gewiss nicht, denn mir selbst war durch den Beistand, den ich ihm angedeihen ließ, sehr geholfen
und ich verspürte in den nächsten Tagen eine so unglaubliche Stärke und eine derart überwältigende Gesundheit, das ich fast
alle in meiner Gesellschaft zu erheitern wusste und sie durch meine plötzliche Offenheit verblüffte. Mit Stephan sprach ich
aber die ganze Woche kaum noch ein Wort. Die Erfahrung, die er mit mir machen musste, schien er nicht im Entferntesten wiederholen
zu wollen, was ich doch etwas bedauerte, da ich hoffte, in ihm eine Art Kommilitonen gefunden zu haben.
Aufjedenfall war wohl diese Sommer-Ferienwoche in Fürstenfeld der Anhieb zu einer regelrechten Umkehr aller meiner
Wertschätzungen und endlich gelang es den zahlreichen Weisheiten, die ich von Nietzsche empfangen hatte, sich auch auf dem
charakterlichen Urgrund meiner Seele niederzulassen.
Es ist nun also ein gewandelter Mensch, mit dem der Leser es zu tun habt, wenn er diese Zeilen lest, ein Mensch, der
vom fröhlichen Kinde zum verbitterten Greis, und vom verbitterten Greise zum kämpferischen Löwen wurde, ein Mensch, der noch
viel vor (sich)zu haben meint, der noch viel unternehmen will, in dieser schier
unbeschränkten Welt des Geistes, der vor allem den Mut wieder gefunden hat, ganz er selbst zu sein, ohne sich dessen zu schämen.
14.Oktober 2004
Es gibt da ein Mädchen, das mir in letzter Zeit besonders stark aufgefallen ist, obwohl es wohl eher zu denjenigen
gehört, die im Allgemeinen kaum auffallen, oft weil sie nicht auffallen wollen oder weil sie Angst haben, sie könnten etwas
Falsches tun. Das soll nicht heißen, dass dieses Mädchen es nicht verdient hätte, ganz im Gegenteil – es liegt wie ein
verborgener Schatz unter dem Sand der lärmenden Sozietät, scheint im Zuge des hektischen Alltags und der Profilierungssucht
der Einzelnen unterzugehen, ja es kommt einem so vor, als würde sich an dieser Person die Weisheit bewährt finden, dass es
zumeist die begehrenswertesten und sublimsten Charaktere sind, deren Eminenz nicht zu Tage kommt, da ihre flüsterhafte, zarte
Melodie vom Gebrüll der groben Masse überdröhnt wird.
Sie ist eben auch ziemlich zurückhaltend, fast schüchtern, dafür trägt sie beinahe immer ein Lächeln auf ihrem Antlitz,
welches ihr wirklich bezaubernd steht. Sie hat ein wunderhübsches, liebreizendes Gesicht, dunkelblonde Haare, treuherzig geweitete
Augen, ist schmalschultrig, dünn und überaus attraktiv. Ihre Stimme klingt sehr hell, durchaus feminin, aber auch etwas infantil,
ohne deswegen gleich ins Schrille zu gehen. Überhaupt ist sie vom Gemüt her, äußerst kindlich veranlagt, ansatzweise auch
etwas oberflächlich in ihrem Verhalten, dafür mit einer solchen Offenherzigkeit und Güte versehen, das man sie alleine für
ihre sonnenhafte Ausstrahlung umarmen und nie wieder der Freiheit übergeben möchte. Vor allem, wenn man innerlich so abgekühlt,
so erkältet ist, wenn man die Welt von ihrer herbstlich-winterlichen Seite erlebt hat, wenn einem das Herz wie ein Eiszapfen
am Geiste hängt, wirkt ihre Wärme wie Medizin auf die Seele und taut das wenig Lebendige auf, das noch nicht unter den farblosen
Schnee der Indifferenz geraten ist.
Kurzum: Ich brauche dieses Mädchen, ich vergehe fast vor Sehnsucht nach dieser Erscheinung, nach diesem Phänomen der
vollendet scheinenden Weiblichkeit, ich begehre dieses Mädchen, wie ein einsamer Bergsteiger eine seltene Alpenrose begehren
würde, die immer wieder auf seinem Weg durch die skrupellose Kälte und den schneidigen Wind der Höhen auftaucht und seine
Aufmerksamkeit auf sich zieht, ohne dass dieser es aber wagen würde, sie zu pflücken, ohne dass er mehr tun könnte, als kurz
anzuhalten und sie zu betrachten, sich einfach nur gedanken- und interesselos in ihr zu verlieren, wie in einem türkisblauen
Ozean, ihre Schönheit zu geniessen, in kleinen Zügen, wie guten Rotwein, zu erschmecken, ja mit dem Bewusstsein in sich aufzunehmen,
dass diese Blume unverweigerlich verwelken müsste, wenn man ihren Stengel durchtrennen und sie in seine Tasche stecken würde
– denn Schönheit lässt sich nicht besitzen, der Schönheit kann man sich nicht bemächtigen, ohne sie zu vernichten, Schönheit
muss frei sein, um schön zu sein, das Wesen der Schönheit liegt eben in ihrer Freiheit, in ihrer Unerreichbarkeit, ihrer Unantastbarkeit
– Erst das macht sie heilig und erstrebenswert.
15.Oktober 2004
Es wäre unvorstellbar, dass ich diese liebliche Erscheinung, dieses gedankenlos dahinlebende
Geschöpf, dieses rein äußerlich eminente Wesen, auch in jener Zeit begehrt hätte, als ich die sinnliche Wirklichkeit noch
viel geringer schätzte als das rein Abstrakte, das Begriffliche und vollends Vergeistigte.Umso mehr scheint sie mir für meinen
Weg zurück in die naive Wärme des Lebens vorherbestimmt, umso mehr sehe ich in ihr die Chance auf eine Wiederkehr meiner dionysischen
Leidenschaft und Gesundheit. Gerade ihr vermeintlicher Mangel an Reflexion und Einsicht, gerade ihre offenkundige Sorglosigkeit
und Kleinlichkeit, ihr Streben nach einem häuslichen, einfältigen Leben, ihre Freude an den gar unwesentlichsten und vergänglichsten
Dingen, macht sie in meinen Augen so attraktiv, so anziehend und fast meiner notwendig. Ihre radikale Andersartigkeit,
der immanente Zwiespalt zwischen ihrer und meiner Welt, also die diametrale Gegensätzlichkeit unserer Charaktere,
löst in mir das Gefühl einer unüberwindbaren und gerade darum umso sehnsüchtigeren Spannung aus, als ob sich in dieser Empfindung
die tragische Diskrepanz von Vernunft und Natur äußern und in einer Sprache der Emotionen verwirklichen wollte.
Selbstverständlich klingt das wie blanker Unsinn. Selbstverständlich sind derartige Formulierungen,
nur der vergebliche Versuch, etwas auszudrücken, das schlicht nicht gesagt werden kann: hier muss also die Mystifizierung
hinhalten, die Metaphysik, die dichterische Allusion an Naturphänomene und inhaltslose Abstracta.
Andererseits: Na und? Was sind Worte generell anderes als Schall und Rauch? Alleine, wo
das Verständnis und der Nachvollzug einer erzählten Sache beginnt, wo die bloße Formalität des Wortes sich in Wirklichkeit
und Erregung des Gefühls transfiguriert, dort beginnt auch der eigentliche Sinn, die eigentliche Wesentlichkeit der Sprache.
Wenn wir einen anderen verstehen, möge er noch so sehr in dichterische Floskeln und widersprüchliche Verse verfallen, das
heißt: wenn wir verstehen, was er empfindet, wie er empfindet und warum er sich überhaupt artikulieren
will: wenn wir seine Absicht, sein intentionales Begehr erahnen und dahingehend nachvollziehen können – dann finden
wir die Sprache in all ihrer Subjektivität gerechtfertigt, dann begreifen wir, dass die Sprache keine Last, sondern ein Segen
ist, ja eine durch und durch notwendige Gabe des Menschen, ohne welche seine Vernunft hinfällig, die Sozietät mit anderen
unmöglich wäre.
Was sich an mir offenbar nicht gewandelt hat, dass ist die unrechtschaffene Neigung, nicht
beim Thema bleiben zu können und ständig von dem eigentlichen Problem abzugehen.
Kurz: - um nochmal zum Wesentlichen zurückzukehren – dieses Mädchen scheint mir
wie das Tor zu einer früheren Welt, zu einer ursprünglicheren, gesünderen Welt, wo auch ich selbst endlich gesunden kann.
Denn was hat es auch für einen Sinn, sein Leben irgendeiner Aufgabe zu widmen, solange das Anstreben dieser Aufgabe einem
keine Lust bereitet. Und gerade die Lust an der Philosophie ist vergiftet durch den Tropfen der tragischen Sehnsucht nach
Wahrheit. Gestehen wir es uns doch ein: gerade das Geistige und Ideale ist ein reichlich brüchiges Refugium, denn es reicht
schon eine unwesentliche Empfindung, ein oberflächlicher Gedanke, der sich hinzugesellt, und das Konstrukt einer so beständig
scheinenden Ideenwelt fliegt in sich zusammen, wie ein vom Winde verblasenes Kartenhaus. Und doch: Was hat die Sinnlichkeit
mehr zu bieten? Sind ihre Empfindungen nicht eben so vergänglich, ihre Auswirkungen nicht ebenso kontingent und teilweise
sogar absurd, ekelerregend, enttäuschend?
Ich bin in ein Labyrinth gefallen, gerade eben. So etwas passiert – so etwas muss
passieren – dabei wollte ich doch über Sie reden.
Sie hat damit nichts zu tun. Und doch könnte sie etwas damit zu tun haben, sobald erst
ich etwas mit ihr zu tun habe. Hier stellt sich mir aber die Frage, ob es nicht klüger wäre, mich von ihr fern zu halten,
ja, ich würde fast sagen: sie von mir zu verschonen, denn in der Tat könnte ich in einem so naiven Geiste viel anrichten,
viel auch vernichten.
Man merkt: ich rede nicht über sie, wie über jemanden, den ich liebe. Es klingt
eher so, als wollte ich sie ausnützen, sie ausnehmen, sie instrumentalisieren. Aber liegt hierin wirklich ein Unterschied?
Ist nicht jede Art von erfüllter Liebe immer ein Sich-Nehmen, was man Besitzen will, ein Geniessen, was man begehrt,
ein Auskosten dessen, was sich einem anbietet? Und ist nicht auch das Geben nur eine Art, etwas von der Freiheit des anderen
zu nehmen, indem man das Gegenüber von sich abhängig macht, es verunselbständigt, ihm beispielsweise einen Gefallen
tut, damit es sich an meine Dienste gewöhnt?
Nietzsche hat vollkommen recht: Was ich bewundere, was ich als etwas Heiliges,
etwas Jenseitiges empfinde, wird mein Herz zwar stets in Wallung bringen – aber die Liebe zu solch wahrhaftigen
und überwältigenden Geschöpfen wird immer unbefriedigend und enttäuschend sein. Ich habe an dieser Stelle bereits einige Erfahrungen
gemacht, auf die ich aber jetzt nicht genauer eingehen möchte. Diese eine Seite der sinnlichen Medaille ist mir allzu bekannt
– ich habe mich viel zu lange durch ihr Emblem täuschen lassen – nun verlangt es mich, sie umzudrehen und
alles auf einen neuen Versuch ankommen zu lassen.
An diesem wunderbaren Wesen wird sich zeigen, ob mein Weg zurück in die Naivität sich
noch verwirklichen lässt. Oder ob es für mich doch nur diese eine Richtung, dieses eine Vorwärts gibt – den Weg
in die kalten Arme der Vernunft.
Weiter...
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